Lessing-Bibliothek: Ein Wohnzimmer für die Stadt

In Kamenz lässt sich besichtigen, wie modern Bibliotheken auch außerhalb der Metropolen sein können

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine der Arbeitsinseln in der Lessing-Bibliothek in Kamenz
Eine der Arbeitsinseln in der Lessing-Bibliothek in Kamenz

Man erreicht Wolfgang Melzer in einer Bibliothek alter Schule. Der Vorsitzende des Fördervereins für die Stadtbibliothek Kamenz sitzt 500 Kilometer westlich in Detmold. In der Lippischen Landesbibliothek forscht er zum Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, dem er eine Erzählung widmen will. In den Lesesälen wird wissenschaftlich gearbeitet; Stille ist oberste Nutzerpflicht. Er müsse daher, entschuldigt sich Melzer, zum Telefonieren vor die Tür gehen.

In der Bibliothek seiner Heimatstadt Kamenz, die mit Gotthold Ephraim Lessing nach einem hier geborenen anderen Dichter benannt ist und um deren Wohlergehen er sich mit den gut zwei Dutzend Mitgliedern des Fördervereins kümmert, müsste er das nicht. Hier gibt es keinen Raum, in dem Stille das oberste Gebot ist. Melzer könnte es sich zum Beispiel auf einem Sofa im Foyer bequem machen. Er müsste nur in Kauf nehmen, dass im Hintergrund die Rufe von Jugendlichen zu hören sind, die in einem Separee an der Spielkonsole zocken. Telefonieren könnte der Vereinschef auch in einem Bereich mit Tischen und Stühlen, in dem sich freilich unter Umständen Schüler über einen Vortrag unterhalten oder diesen an einer digitalen Tafel üben. An diesem Tag kurz vor den Ferien referiert hier niemand mehr. Dafür klimpert ein Gymnasiast auf einem Klavier »Alle meine Entchen«.

In früheren Zeiten hätte er sich dafür die Rüge einer Bibliothekarin eingefangen. Marion Kutter, die Leiterin der Kamenzer Bibliothek, freut sich stattdessen, dass das Instrument genutzt wird. »Ungezwungenheit ist ein großes Plus unseres Hauses«, sagt sie. In ihrer Bibliothek soll beileibe nicht krakeelt werden, aber Gespräche sind auch nicht unerwünscht. Wen das bei der Lektüre stört, der kann sich in Leseinseln zurückziehen, die mehr Abgeschiedenheit bieten. Vergliche man ihre Einrichtung mit einem Haus, entspräche sie nicht dem Studierzimmer, sagt Kutter: »Unsere Bibliothek soll das Wohnzimmer der Stadt sein.«

Über der Kinderabteilung leuchtet eine Lichtinstallation in Form einer Sonne.
Über der Kinderabteilung leuchtet eine Lichtinstallation in Form einer Sonne.

Bibliotheken haben sich sehr verändert. Als der Kamenzer Namensgeber Lessing im Mai 1770 Bibliothekar in Wolfenbüttel wurde, handelte es sich oft um elitäre Einrichtungen, die gleichermaßen Hort der Wissenschaft waren wie Zeugnisse des Wohlstands ihrer adligen Gründer. Die Kamenzer Bibliothek war ursprünglich den Schülern eines Lyzeums vorbehalten. Später öffnete sie sich der breiteren Stadtbevölkerung. Der Zweck aber war auch hier eng umrissen: Bibliotheken sammelten Bücher, die Interessierte für eine gewisse Zeit nutzen konnten. Das Kapitel ist vorüber, sagt Kutter: »Die Zeit als reiner Ausleihort ist für öffentliche Bibliotheken vorbei.«

Wohin die Reise geht, das wurde gerade auf dem Deutschen Bibliothekskongress besprochen, der an diesem Freitag in Bremen zu Ende geht. Rund 3000 Fachleute berieten darüber, welche Rolle ihre Einrichtungen in der demokratischen Gesellschaft spielen und wohin sich ihr Selbstverständnis entwickelt. Bibliotheken sind zunehmend zu öffentlichen Orten geworden, an denen sich Menschen aufhalten und austauschen, ohne lesen zu müssen; an denen sie Werkstätten mit 3D-Druckern oder Tonstudios nutzen können; an denen neben Büchern auch Bohrmaschinen ausgeliehen werden können. In wegweisenden Häusern wie der Oodi-Zentralbücherei Helsinki sind Bücher erst auf den zweiten Blick oder gar nicht mehr zu sehen.

Man muss aber nicht nach Helsinki reisen, um zu erleben, wie eine moderne Bibliothek aussehen kann. Marion Kutter hat sich im Urlaub Büchereien in Dresden und Potsdam angeschaut, in Zwickau und Freiberg. Ideen, die sie inspirierten, sammelte sie. Damals saß ihre eigene Bibliothek noch im Geburtshaus von Lessing: ein Teil über einem Museum für den Dichter, die Kinderabteilung im früheren Kohlenkeller darunter, ohne Fenster. »Das war kein schöner Zustand«, sagt Kutter. Abläufe waren schwer zu organisieren, außerdem waren 350 Quadratmeter Nutzfläche viel zu klein.

Dann errichtete der Landkreis Bautzen in Kamenz einen Erweiterungsbau für das Gymnasium. Auf Wunsch der Stadt wurde er um eine Etage aufgestockt. In dieser fand auch die Bibliothek ihr neues Domizil – auf 900 Quadratmetern. Unter Einbeziehung der Ideen, die Kutter im Urlaub gesammelt hatte, entwickelte das Kamenzer Büro PDW Architekten eine Stadtbücherei, die nun ihrerseits Fachkollegen inspirieren könnte und kurz nach der Eröffnung mit dem Sächsischen Bibliothekspreis 2023 ausgezeichnet wurde. Sie zeige »vorbildlich, wie professionelle Bibliotheksarbeit und Innovationskraft zu einem einladenden Aufenthalts-, Veranstaltungs- und Kulturort in Kamenz geführt haben«, lobte Sachsens Kulturministerin Barbara Klepsch.

Einladend wirkt bereits das Foyer, in dem es erst einmal keine Bücher zu sehen gibt – außer in einer Installation, die mit Liegestuhl und Luftmatratze für einen sommerlichen Lesewettbewerb für Schüler wirbt. Statt Büchern gibt es Sessel und einen Kaffeeautomaten. »Das sorgt für Aufenthaltsqualität«, sagt Kutter, »und auch für ein paar Einnahmen.«

Rechts öffnet sich der Blick in den Bereich für Kinder, der nichts mehr mit dem Keller von einst gemein hat. Es gibt große Fenster und an der Decke eine Lichtinstallation in Form einer Sonne. Die Regale sind hüfthoch: »Da kommen auch die ganz Kleinen ran.« Orientierung bietet ein mit drei Augen dreinschauendes Maskottchen, das »Lesemonster«. Accessoires wie ein Schnuller oder eine Krone weisen auf die Zielgruppe oder das Genre der Bücher hin.

An die Jüngsten wurde auch bei der Gestaltung der Ausleihe gedacht. Diese ist auch an Terminals möglich, an denen die Leser ihre Bücher über einen Scanner ziehen und selbst »verbuchen« können. Die Pulte lassen sich per Knopfdruck in der Höhe verstellen: »So können auch Dreijährige ihre Pixies selbst ausleihen.« Die Terminals verleihen den Nutzern mehr Eigenständigkeit. Der Chefin ermöglicht es die Technik, mit den begrenzten Ressourcen einer Kleinstadtbücherei besser umzugehen. Sie hat vier »Vollzeitäquivalente« zur Verfügung, in die sich vier Bibliothekarinnen und der Hausmeister teilen. Sie halten das Haus an fünf Wochentagen von 9 bis 18 Uhr offen, arbeiten bis zu 5000 neue Bücher und andere Medien im Jahr ein, sortieren ebenso viele wenig genutzte aus und organisieren über 150 Veranstaltungen im Jahr. Die Tätigkeit habe sich seit ihrer Ausbildung sehr verändert, sagt Kutter: »Es passiert noch, dass wir Tipps für gute Krimis geben, aber das ist der kleinste Teil.«

Zeitweise steht sie für Lektüretipps ohnehin nicht zur Verfügung. Die Terminals ermöglichen es zusammen mit einem modernen Zugangssystem auch, die Bibliothek zu Zeiten geöffnet zu halten, in denen kein Personal anwesend ist: wochentags zwischen 18 und 21 Uhr, Samstag und Sonntag von neun bis neun. Im Stadtrat gab es anfangs Skepsis, ob dieses Prinzip einer »Open Library« funktioniert. Nach zwei Jahren kann Kutter die Kommunalpolitiker beruhigen: »Es gibt keinerlei Schäden.« Stattdessen tragen die neuen Öffnungszeiten mit dazu bei, dass sich die Zahl der Nutzer auf 120 000 im Jahr erhöht hat – und das in einer Stadt mit 17 000 Einwohnern. Die Hälfte der Besucher, betont Kutter, ist jünger als 30 Jahre.

Solche Zahlen zeigen, dass die Lektüre von Büchern kein aussterbendes Phänomen ist. »Wir schaffen es, junge Leute beim Lesen zu halten«, sagt Wolfgang Melzer, der Chef des Fördervereins. Er staunt freilich manchmal, was die Jugend liest. Bücher von Erwin Strittmatter, den er und seine Vereinskollegen hoch schätzen, verschwinden aus den Regalen, weil sie nicht mehr entliehen werden, anders als aktuelle Bestseller, deren literarischer Wert sich Melzer manchmal nicht recht erschließt. Er wolle mal eine Autorin einladen, »damit sie uns erklärt, was das Geheimnis solcher Bücher ist«, sagt er. Das dürfte in Kamenz ebenso auf Interesse stoßen wie die Diskussionsrunden unter dem Titel »Worte und Weißwein«, zu denen der Verein zweimal jährlich Wissenschaftler einlädt, jeweils vor 70 bis 100 Interessierten.

Als Raum der öffentlichen Debatte werden Bibliotheken auch künftig eine wichtige Rolle spielen, sind Melzer und Kutter überzeugt. Zudem gibt es auch in Kamenz inzwischen mehr auszuleihen als nur Bücher, Filme und CDs. Eine »Bibliothek der Dinge« bietet etwa einen Beamer samt Leinwand oder eine Karaoke-Anlage an. »Ressourcen zu teilen ist ja die DNA von Bibliotheken«, sagt Kutter, die sich freilich immer einen Bezug zu »Literatur, Sprache oder dem Generieren von Wissen« wünscht: »Lastenräder würde ich nicht ins Sortiment aufnehmen.« Dafür gibt es Lerncomputer und -roboter für Kinder.

Ein Roboter ist auch der einzige bislang unerfüllte Wunsch auf ihrer Liste mit Ideen für eine moderne Bibliothek. Derlei Geräte könnten inzwischen Leser beraten und zum Standort eines Buches an die Regale führen, sagt Kutter. Irgendwann, hofft sie, reicht das Geld für einen solchen »Mitarbeiter« in der Kamenzer Lessing-Bibliothek, die alles andere ist als eine Bücherei alter Schule.

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