Juncker: Ende der Beitrittsgespräche mit Türkei wäre Fehler

Österreichs Bundeskanzler Kern nannte Gespräche mit AKP-Regierung »diplomatische Fiktion« / Verwirrung um angeblichen »Plan B« zum Anti-Asyl-Pakt zwischen Brüssel und Ankara

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Berlin. So schnell wie die Debatte entbrannte, sollte sie wieder gedeckelt werden: Die EU-Beitritssverhandlungen mit der Türkei zu beenden sei ein »schwerwiegender außenpolitischer Fehler«, sagte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, am Donnerstag dem ARD-Studio Brüssel. Die Türkei könne in ihrem jetzigen Zustand zwar nicht Mitglied der Europäischen Union werden, die Tür zuzuschlagen, wie es zuvor Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) forderte, lehne Juncker jedoch ab – es sei denn, das Land führe die Todesstrafe wieder ein. »Dies hätte den sofortigen Abbruch der Verhandlungen zur Folge.«

Juncker verwies darauf, dass ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen nur mit einem einstimmigen Beschluss der noch 28 Staats- und Regierungschefs möglich sei. »Diese Bereitschaft aller Mitgliedsstaaten sehe ich im gegebenen Moment nicht.«

Der Kommissionspräsident nutzte die Gelegenheit auch, um auf die Erfüllung der Bedingungen der EU für die Visafreiheit türkischer Bürger zu pochen. »Bedingungen sind Bedingungen, wir können nicht in Sachen Menschenrechtsfragen oder in Fragen Antiterrorgesetzgebung von unserem Standpunkt abrücken«, sagte der Luxemburger der ARD. »Antiterrorgesetzgebung darf nicht missbraucht werden, um Journalisten, Akademiker und andere ins Gefängnis zu stecken, das geht mit uns nicht.«

Österreichs Regierungschef Kern hatte am Mittwochabend im ORF gesagt, ein Beitritt der Türkei zur EU sei »nur noch diplomatische Fiktion«. Er wolle die Möglichkeit eines Abbruchs beim kommenden EU-Gipfel am 16. September auf die Tagesordnung setzen. »Wir wissen, dass die demokratischen Standards der Türkei bei Weitem nicht ausreichen, um einen Beitritt zu rechtfertigen.«

Die EU müsse ihre künftige Zusammenarbeit mit der Türkei anders regeln als durch einen Beitritt. »Es braucht ein alternatives Konzept«, sagte Kern. Die Türkei bleibe dabei »in sicherheitspolitischen und integrationspolitischen Fragen ein wichtiger Partner« - etwa bei der Bekämpfung der Dschihadisten-Miliz »Islamischer Staat«.

Auch die Wirtschaft der Türkei sei weit entfernt vom europäischen Durchschnitt, führte der Bundeskanzler in der Zeitung »Die Presse« weiter aus. So gebe es schon im Hinblick auf den Zugang von Menschen aus südost- und zentraleuropäischen Staaten zum EU-Arbeitsmarkt erhebliche »Disparitäten«. Dabei sei bei diesen Herkunftsländern der Abstand zum Lohnniveau noch vergleichsweise klein.

Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller hat sich dagegen gewandt, die Beitrittsverhandlungen zu stoppen. Im Deutschlandfunk erklärte sie am Donnerstagmorgen, dass ein Abbruch der Gespräche zum jetzigen Zeitpunkt kontraproduktiv wäre. Die Beitrittsverhandlungen könnten auch ein wichtiges Instrument dafür sein, Menschenrechte zu stärken. Man solle diejenigen Menschen und Organisationen nicht vergessen, die sich in der Türkei mit Europa identifizieren.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat die Forderung Österreichs nach einem Stopp der EU-Beitrittsgespräche hart kritisiert. Dass Bundeskanzler Kern in »Türkei-feindliche Diskurse« verfalle, sei »besorgniserregend«, sagte Cavusoglu nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. Er zeigte sich insgesamt enttäuscht über die Reaktion der EU nach dem Putschversuch vom 15. Juli. Man habe erwartet, dass Europa der Türkei in Solidarität beistehe, sagte er. Die Türkei erwarte nicht »steigenden Rassismus und Fremdenhass«, sondern das Europa den »berechtigten Kampf des türkischen Volkes um Demokratie unterstützt«.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat Kanzler Kern verteidigt. Er weise die Kritik des türkischen Europaministers Ömer Celik scharf zurück, schrieb Kurz am Donnerstag auf Twitter. Celik warf Kern nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu eine rechtsextreme Wortwahl vor. Diee Türkei müsse ihre »Hausaufgaben machen« und sich selbst in Wortwahl und »Vorgehen im Land mäßigen«, so Kurz.

Irritationen um angeblichen »Plan B« zum Anti-Asyl-Abkommen

Die Beitrittsverhandlungen und der Anti-Asyl-Deal mit der Türkei sind jedenfalls euf der europäischen Tagesordnung – und werden mindestens bis zum nächsten EU-Gipfel dort bleiben. Zuletzt hatte ein Zeitungsinterview des griechischen Migrationsministers Ioannis Mouzalas Verwirrung ausgelöst: Die »Bild«-Zeitung hatte den Minister am Mittwoch mit den Worten zitiert: »Wir sind sehr beunruhigt. Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B.« Gemeint war, man benötige eine Alternative, falls die Türkei den Flüchtlingspakt einseitig aufkündigen sollte.

Die griechische Regierung dementierte das Zitat am Mittwochabend per Pressemitteilung: Diese Aussage sei in dem Interview nicht gefallen. Die »Bild«-Zeitung blieb hingegen bei ihrer Darstellung und betonte auf Nachfrage, eine Kollegin habe das Interview telefonisch geführt.

Die Aussage »Wir brauchen einen Plan B« hatte am Mittwoch auch Brüssel zu einem Statement veranlasst. »Die Kommission hat einen Plan A, und der besteht darin, den EU-Türkei-Deal zum Erfolg zu führen«, sagte eine Sprecherin in Reaktion auf das nunmehr umstrittene Zitat. Agenturen/nd

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