Rojava und Dscharabulus: Wer kämpft hier gegen wen?

Übersicht über die verschiedenen Konfliktparteien in Nordsyrien / Nach türkischer Offensive in Nordsyrien neue politische Ausgangslage

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 11 Min.

IS, Türkei, YPG, SDF und FSA: Wer kämpft in Nordsyrien eigentlich gegen wen? Welche Staaten, welche Gruppen vertreten welche Interessen? Dieser kurze Überblick versucht aufzuzeigen, welche Bündnisse sich in Rojava derzeit gegenüber stehen.

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF)

Die kurdisch-arabischen Syrischen Demokratischen Kräfte sind in Nordsyrien derzeit die militärisch erfolgreichste Fraktion. Ihr Hauptgegner war bisher der Islamische Staat. Die SDF hat sich als Militärbündnis im Oktober 2015 gegründet. Nach Schätzungen der Nachrichtenagentur Rudaw machen kurdische Einheiten der Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) rund 60 Prozent der Truppen aus.

Der Rest setzt sich aus Arabern, Armeniern, christlichen Assyrern, Turkmenen und Zirkassiern zusammen. Die wichtigsten Verbände sind hier die sunnitisch-arabische Miliz des Schammar-Stammes (Quwat as-Sanadid), die mehrheitlich arabische Armee der Revolutionäre (Dschaisch ath-Thuwwar) und der christlich geprägte assyrisch-aramäische Militärrat der Suryoye (MFS). Auch kleinere, ehemalige Gruppen der »Freien Syrischen Armee« (FSA) haben sich angeschlossen. Mehrere ausländische Freiwillige kämpfen auf Seiten der kurdischen Einheiten.

Die SDF beansprucht für sich, für ein säkulares, demokratisches und föderales System in Syrien zu kämpfen. Berufen wird sich auf die Prinzipien der direkten Demokratie sowie auf das Konzept des »Demokratischen Föderalismus« des in der Türkei inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Die politische Vertretung des Bündnisses ist der »Syrische Demokratische Rat«. Dieser hatte im März 2016 offiziell die »Föderation von Nordsyrien - Rojava« ausgerufen. Ko-Vorsitzender ist der Menschenrechtsaktivist Haytham Manna. Weder im Ausland noch von der syrischen Regierung wurde der Verbund anerkannt. Rojava befindet sich darüber hinaus unter einem Embargo von der Türkei und dem rivalisierenden Irakisch-Kurdistan.

Mehrere Städte wie Al-Shaddadah, Hasaka oder Manbidsch konnte die SDF in den vergangenen Monaten von dem Islamischen Staat befreien. Auseinandersetzungen mit dem syrischen Regime, das in Nordsyrien nur noch über ein paar kleine Stützpunkte verfügt, wurde weitestgehend aus dem Weg gangen – mit der Ausnahme von Aleppo. Nichtsdestotrotz kommt es mit wachsendem Erfolg der SDF wie jüngst in Hasaka vermehrt zu Scharmützeln mit den Regime-Truppen und seinen Verbündeten.

Nachdem die USA zugeben mussten, dass ihre Versuche, »moderate« sunnitische Rebellenverbände aufzubauen, in Syrien gescheitert waren, ging man dazu über, die SDF als entscheidenden Verbündeten zu bewerten. So unterstützt die US-geführte Koalition die kurdisch-arabischen Einheiten fast täglich mit Luftangriffen und Spezialeinheiten am Boden. Kleinere Waffenlieferungen wurden vereinzelt vorgenommen, jedoch beinhalteten diese keine schweren Geräte – vermutlich, um den NATO-Partner Türkei nicht zu verärgern. Die USA wünschen sich vor allem, dass die SDF die de-facto-Hauptstadt des Islamischen Staates, Rakka, erobert. Das Bündnis legt seine Priorität jedoch momentan auf den vollständigen Zusammenschluss der Rojava-Gebiete in Nordsyrien. Auch Russland unterstützte die SDF zeitweise mit Luftangriffen.

Die größte Sorge der SDF ist eine Zusammenarbeit der Türkei, der syrischen Regierung unter Assad sowie des Irans, um gemeinsam gegen die kurdischen Autonomiebestrebungen vorzugehen.

Islamischer Staat (IS)

Der »Islamische Staat« ist eine sunnitische Dschihadisten-Miliz, die im Juni 2014 nach der Eroberung zusammenhängender Gebiete in Syrien und Irak ein »Kalifat« ausgerufen hat. Der Organisation werden zahlreiche Kriegsverbrechen, Sklaverei, Terroranschläge und Völkermord vorgeworfen. Dutzende Staaten befinden sich im Krieg oder einem kriegsähnlichen Zustand mit dem IS.

In Nordsyrien kontrolliert der IS derzeit neben seiner Hauptstadt Rakka nur noch die Stadt al-Bab zwischen den Rojava-Kantonen Afrin und Kobane. Die verbliebene Grenzstadt Dscharabulus wurde am 24. August von Türkei-nahen Rebellen eingenommen. Noch bis Ende 2014 beherrschten die Islamisten größere Gebiete, jedoch wendete sich nach der vernichtenden Niederlage bei der versuchten Eroberung der kurdischen Grenzstadt Kobane das Blatt. Mit Unterstützung der US-geführten Koalition konnten kurdische Einheiten und ihre Verbündeten in der Folge die Dschihadisten aus mehreren Städten vertreiben und die Kantone Kobane und Cizre vereinen. Jüngst hatte der IS auch seine zentrale Bastion Manbidsch westlich des Euphrat-Flusses verloren. Die strategische Stadt galt als Sammel- und Ausbildungsplatz für ausländische Kämpfer sowie als wichtige Verbindung in die Türkei. Im Moment kann nur noch über die al-Bab-Rakka-Route Nachschub über die Nordgrenze geliefert werden.

Auf seine Verluste und den zunehmenden Rückzug aus Nordsyrien reagiert der IS sowohl im Ausland wie auch in Rojava mit verheerenden Anschlägen. Bei einem Doppelattentat in der Rojava-Hauptstadt Kamischli starben in Ende Juli über 50 Zivilisten. Zuvor war auch Kobane Schauplatz eines grausamen Terroranschlages.

Unterstützt wurde der IS laut Medienberichten vor allem von Geldgebern aus Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Türkei wird vorgeworfen, ausländische Dschihadisten über die Grenze nach Syrien reisen zu lassen, den IS mit dem Kauf von Öl finanziell zu stärken sowie direkt über den Geheimdienst die islamistische Organisation zu stützen. Ankara weist die Anschuldigungen zurück. Der IS verfügt mittlerweile auch über eigene umfangreiche Einkommensquellen, beispielsweise aus Gas- und Ölverkäufen, Lösegeld von Entführungen, erhobenen Steuern sowie dem Verkauf von erbeuteten Kunstwerken.

Syrische Regierung

Die syrische Regierung unter Baschar al-Assad hat gegen Ende 2013 die Kontrolle über die Regionen an der Nordgrenze aufgegeben und sich weitestgehend zurückgezogen. Milizen der »Freien Syrischen Armee«, von kurdischen Kräften und später des Islamischen Staates übernahmen daraufhin an vielen Orten die Kontrolle. Das arabisch-nationalistische Baath-Regime hatte zuvor die Kurden jahrzehntelang unterdrückt. 2004 gab es einen ersten kurdischen Aufstand in Kamischli, der jedoch brutal niedergeschlagen wurde. Mithilfe der PKK gründeten Syrische Kurden die Partei PYD und bauten bis zum Beginn der Revolution 2011 im Geheimen eigene Strukturen auf. Die syrische Regierung versuchte mit umfassender Repression die Organisierungsbestrebungen einzudämmen.

Die Syrischen Streitkräfte bestehen trotz fehlender territorialer Kontrolle weiterhin auf die Souveränität der syrischen Regierung und die Integrität des Staates. Die Autonomiebestrebungen von Rojava werden somit nicht anerkannt. De facto kontrolliert das Regime aber nur noch einzelne Viertel, den Flughafen sowie einen Grenzübergang in der Rojava-Hauptstadt Kamischli. In Hasaka verfügt die Regierung Assad auch noch über ein paar Straßenzüge sowie eine Militärbasis. Nach Luftangriffen und anschließenden Kämpfen mit kurdisch-arabischen Einheiten Ende August hat sich jedoch auch hier ihr Einflussgebiet weiter verkleinert. Zur Unterstützung der geschwächten Armee wurden loyale Gruppen von der Regierung bewaffnet und in den »Nationalen Verteidigungseinheiten« (NDF) zusammengeschlossen. Auch arabische Stammesmilizen sollen sich darunter befinden. Regierungsnahe Einheiten verfügen laut kurdischen Angaben nur noch über eine sehr geringe Präsenz in Rojava.

Unterstützt wird die syrische Regierung von Russland, dem Iran, der libanesischen Hisbollah und laut Medienberichten auch von China. Der militärische Vorteil in Nordsyrien ergibt sich vor allem aus der Luftüberlegenheit sowie der Verwendung von schweren Einheiten und Panzern. Bei den Kämpfen um Hasaka sollen neben syrischen Regierungskräften laut Angaben der YPG auch iranische und libanesische Milizen eingesetzt worden sein. Die US-geführte Militärallianz versucht generell im syrischen Bürgerkrieg Auseinandersetzungen mit der Regierung aus dem Weg zu gehen. Im Kampf um Hasaka wurden jedoch erstmals auch Koalitionsflugzeuge zur Warnung eingesetzt, um Luftangriffe der syrischen Regierung auf kurdisch-arabische Einheiten zu unterbinden.

Islamistische/»moderate« Rebellen

Laut türkischen Medienberichten soll es sich bei den Kämpfern, die von der Türkei aus Richtung Dscharabulus vorrückten, um Gruppen handeln, die sich der »Freien Syrischen Armee« zugehörig fühlen. Zu der Invasionstruppe gehörten nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters unter anderem die Verbände »Failak Al-Scham«, die »Sultan-Murad-Brigade«, »Ahrar Al-Scham« und die »Levante-Eroberungsfront« (früher »Nusra-Front« genannt). Alle diese Gruppen werden dem dschihadistischen Spektrum zugerechnet.

Die FSA hatte zu Beginn der syrischen Revolution eine bedeutende Rolle gespielt. Die Rebellen setzten sich hauptsächlich aus desertierten Soldaten und Offizieren zusammen. Nach militärischen Niederlagen kam zu es mehreren Spaltungen, verschiedene Einheiten lösten sich auf oder schlossen sich anderen Organisationen an. Das Bündnis verlor gegenüber islamistischen Gruppen an Bedeutung. Heute sind ideologisch sehr unterschiedliche Verbände unter der Bezeichnung aktiv. In Nordsyrien kämpften der FSA zugehörige Gruppen zum Teil gegen die kurdischen Truppen, zum Teil kämpften sie auch mit ihnen zusammen gegen den Islamischen Staat. Kleinere Einheiten oder ihre Nachfolger integrierten sich in die SDF. In Nordsyrien sind FSA-nahe Gruppen vor allem in den Kämpfen um Aleppo involviert. Dort kommt es jedoch auch regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen arabischen Kämpfern und kurdischen Einheiten, die einen Bezirk der Metropole kontrollieren. Einheiten der FSA soll laut Medienberichten zeitweise von der Türkei und der USA unterstützt worden sein.

Im Februar erlaubten zuletzt türkische Behörden etwa 800 vorgeblichen Kämpfern der syrischen Opposition, bewaffnet die türkische Grenze zu überschreiten. Die Truppen eroberten die Stadt Azaz und sollten dadurch eine Einnahme durch kurdische Kräfte zu verhindern. Seitdem wird ein kleiner Streifen an der Grenze zwischen den Rojava-Kantonen Afrin und Kobane von den Türkei-freundlichen Rebellen gehalten. Nach Kenntnis der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte handelt es sich bei den Kämpfern sowohl um sogenannte »moderate« syrische Rebellen als auch um Anhänger des Islamischen Staates.

Türkei

Die Türkei hat mehrmals öffentlich erklärt, dass sie die Kurden der YPG/YPJ in Syrien als genauso gefährlich und »terroristisch« bewertet, wie den Islamischen Staat. Während dschihadistische Kämpfer die Grenze nach Nordsyrien passieren konnten, wurden die kurdischen Gebiete von Rojava einem strikten Embargo ausgesetzt.

Das erklärte Ziel der Türkei ist es, ein zusammenhängendes, autonomes und kurdisch geprägtes Gebiet südlich seiner Grenze zu verhindern. Mehrmals wurde deutlich gemacht, dass Offensiven der YPG oder der SDF westlich des Euphrat-Flusses nicht geduldet werden. Erst nach einer Intervention der USA soll die Türkei der Befreiung der IS-Bastion Manbidsch durch arabische und kurdische Truppen zugestimmt haben. Kurze Zeit nach der Eroberung forderte sie bereits, dass sich die kurdischen Einheiten wieder zurückziehen sollen.

Die Offensive der türkischen Armee auf die Grenzstadt Dscharablus kann als letzter Versuch gedeutet werden, einen Zusammenschluss der Rojava-Kantone zu verhindern und den eigenen Einfluss in Nordsyrien zu sichern. Es wäre für die Türkei der letzte Grenzübergang, über den Waffen, Kämpfer und Geld zu bewaffneten Rebellengruppen fließen könnten. Vermutlich sollen wie in Azaz auch hier Türkei-nahe islamistische Milizen nach der Eroberung die Kontrolle übernehmen. Laut »CNN Türkei« wäre dagegen das Ziel einen größeren Streifen dauerhaft an der Grenze zu besetzen.

Jüngste militärische Erfolge der SDF hatten die Türkei offenbar auch ihre Position gegenüber Assad hinterfragen lassen. Bislang lehnte es Ankara strikt ab, mit dem syrischen Diktator zu sprechen und verlangte für jede Verhandlungslösung zuerst die Abdankung des syrischen Präsidenten. Nach den jüngsten Kämpfen zwischen Regierungskräften und der YPG/YPJ in Hasaka erklärte jedoch der türkische Ministerpräsidenten Binali Yıldırım vor einer ausgewählten Gruppe internationaler Journalisten: »Wir stellen fest, dass jetzt auch das Assad-Regime bemerkt hat, wie gefährlich die Kurden in Syrien sind.« Diese Bemerkung könnte als Beginn einer neuen Syrienpolitik der Türkei verstanden werden. Aus Sicht von Ankara hätten beide Staaten demnach das Ziel, gegen die kurdischen Autonomiebestrebungen von Rojava vorgehen. Diplomatisch, ökonomisch – und möglicherweise auch militärisch.

USA

Entscheidend wird sein, wie sich die USA im Konflikt zwischen der Türkei und Rojava positionieren. Für Washington ist Ankara einer der wichtigsten NATO-Partner. Die Luftwaffenbasis Incirlik ist für das Militär der internationalen Anti-IS-Koalition von großer Bedeutung. Gleichzeitig sind die kurdisch-arabischen Truppen der SDF aber die wichtigsten Verbündeten der Allianz auf dem syrischen Boden. Die Kurden haben sich als effektivste Kämpfer gegen die Dschihadisten erwiesen. Mit den nicht-kurdischen Verbänden in der SDF ist es auch erstmals der amerikanischen Syrien-Politik gelungen, verlässliche und moderate arabische Regimegegner als bewaffnete Akteure aufzustellen.

Für das erklärte Hauptziel der USA in Syrien, die Einnahme von Rakka, ist das eine wesentliche Vorbedingung. Der Sondergesandte im Kampf gegen den IS, Brett McGurk, ist sich im Klaren darüber, dass nur eine überwiegend von arabischen Einheiten geführte Offensive mit der Befreiung und anschließenden längerfristigen Befriedung von Rakka Erfolg haben würde.

Die amerikanische Unterstützung für die türkische Dscharabulus-Offensive dürfte jedoch die Kurden enttäuschen. Die USA machen damit offenbar deutlich, dass aus ihrer Sicht die Syrischen Demokratischen Kräfte vorerst genügend Gebiete in Rojava erobert haben und der Fokus des Bündnisses nun auf Rakka gerichtet werden müsse. Die Ankündigung von US-Vize-Präsident Joe Biden, einen kurdischen Staat zu verhindern, kann als Warnung verstanden werden, dass eine Verbindung der kurdischen Kantone Afrin und Kobane auch von den USA nicht geduldet wird.

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