Ukrainer in Polen: Status ungeklärt

Zustrom von Flüchtlingen könnte Warschau aus der demografischen Krise helfen

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Zuge des Konflikts in Donezk und Luhansk haben sich mittlerweile über eine Million Ukrainer in Polen niedergelassen. Nachdem das EU-Land seit einigen Jahren zusehends in eine demografische Krise hineinschlittert, könnten die Gäste aus dem Osten, so Experten, einen entscheidenden Beitrag zur Rettung des angeschlagenen Rentensystems und des Arbeitsmarktes leisten.

In der Tat lassen sich die von der statistischen Behörde GUS vorgelegten Prognosen nicht beschönigen. Bis zum Jahr 2050 wird die polnische Bevölkerung von 38 auf 34 Millionen schrumpfen. Beinahe elf Prozent haben zu diesem Zeitpunkt bereits ihr 80. Lebensjahr überschritten. Viele Unternehmer und Arbeitgeber fordern deshalb eine schnellstmögliche Legalisierung des Aufenthalts für Ukrainer ohne Status. Ähnliche Postulate hört man übrigens auch aus Politikerkreisen, die anderwärts einer »offenen Willkommenskultur« skeptisch gegenüberstehen.

»Damit das jetzige Tempo unserer wirtschaftlichen Entwicklung erhalten bleibt, müssten wir bis 2050 fünf Millionen Migranten aufnehmen, vorzugsweise aus Ländern, deren Einwohner sich bei uns leicht integrieren ließen«, erklärt Innenminister Mariusz Błaszczak. Der PiS-Politiker meint damit vornehmlich Ukrainer und Belorussen, jedoch auch - was für westliche Leser auf den ersten Blick verwunderlich sein mag - Vietnamesen.

Über 30 000 Menschen aus Südostasien leben inzwischen an der Weichsel, die genaue Zahl ist unbekannt. Die meisten von ihnen landeten im sprichwörtlichen Nichts: keine Papiere, keine Krankenversicherung, keine Rechte. Für viele dieser Einwanderer ist ihr Status unwesentlich, sie sind einfach nur froh, es über die EU-Grenze geschafft zu haben. Das gilt auch für die Ukrainer, die in ständiger Angst leben müssen, wieder abgeschoben zu werden.

Ausländer erhalten in Polen zumeist eine Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnis für maximal zwölf Monate, anschließend müssen sie in ihre Heimat zurückkehren. 2015 wurden 763 000 solcher Genehmigungen ausgestellt, davon 90 Prozent für Migranten mit ukrainischem Pass. Kurios: Die stolze Verkündung Beata Szydłos Anfang diesen Jahres, Polen hätte erfolgreich »eine Million ukrainischer Flüchtlinge« integriert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass 2015 lediglich zwei einen solchen Status erhielten.

Schätzungen zufolge halten sich etwa 270 000 Ukrainer illegal in Polen auf. Zumeist verrichten sie einfache Arbeiten auf Bauplätzen, im Obst- und Gemüseanbau oder in der Industrie. Frauen übernehmen häufig Tätigkeiten im Reinigungsdienst und - was angesichts der »vergreisenden« polnischen Bevölkerung nicht ganz belanglos ist - in der Altenpflege. Laut GUS sind aber auch rund 23 000 Ukrainer an polnischen Universitäten eingeschrieben, über die Hälfte der ausländischen Studenten kommt aus dem Nachbarland.

Nicht zuletzt deshalb werden Forderungen laut, allen Ukrainern einen Daueraufenthalt in Polen zu ermöglichen. »Legale« ukrainische Migranten könnten der Haushaltskasse jährlich bis zu 7,2 Milliarden Złoty (ca. 1,67 Mrd. Euro) bringen. »Flüchtlinge aus der Ukraine wären auch ein Gewinn für andere Arbeitsmärkte in der EU. Deswegen wäre es sinnvoll, sie langfristig an Polen zu binden«, so die Warschauer Arbeitsministerin Elżbieta Rafalska. Zudem könnte der Zustrom aus dem Osten der sich seit Jahren abzeichnenden demografischen Krise entgegenwirken. »Unsere familienfreundliche Politik hat die Geburtenrate zwar angekurbelt, jedoch sind die Neugeborenen erst in ca. 25 Jahren auf dem Arbeitsmarkt präsent, da kommen die Besucher - wenn man so will - gerade recht«, glaubt Rafalska.

Und Volkes Stimme? Laut einer aktuellen Umfrage würden rund 52 Prozent der Polen »einen ukrainischen Nachbarn« akzeptieren, 28 wären dagegen, 20 wäre es gleichgültig. Die »Zweifler« verweisen auf die Angst vor erhöhter Kriminalität und den Missbrauch von Sozialleistungen. Dabei sind - abgesehen von Schmugglern an der Grenze - kaum schwerwiegende Delikte festzustellen, die sich auf Ukrainer zurückführen ließen. »Die meisten ukrainischen Familien in Polen verhalten sich unauffällig und gehen ihrer Arbeit nach. Darüber hinaus sind in den Ämtern bislang nur ganz wenige Anträge auf Sozialhilfe eingegangen«, sagt Tomasz Baran von der Universität Warschau.

Und wie ergeht es den Einwanderern selbst? Finden sich die Ukrainer mit dem ungeklärtem Aufenthaltsstatus in Polen zurecht? »Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Ihrem Land und der Ukraine ist?«, fragt die 24-jährige Nadja, die sich in der polnischen Hauptstadt mit Gelegenheitsjobs durchkämpft. »In meiner Heimat habe ich jede Hoffnung verloren, hier habe ich sie wiedergefunden. Heute habe ich Arbeit, morgen nicht, egal. Übermorgen finde ich etwas Besseres. Aber ich werde überleben«.

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