So viel Welt in einem Buch

Kathrin Schmidt hat einen großen Roman über die DDR, das Jüdischsein und ein bengalisches Mädchen geschrieben

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine halbe Seite mit Anmerkungen gibt es, aber ein einigermaßen vollständiges Register hätte schätzungsweise zwanzig Seiten gebraucht. Keine Angst: Die Handlung dreht sich eigentlich nur um zwei Familien; die Zahl der Gestalten ist überschaubar. Aber der Roman steckt so voller historischer Fakten und Personen, dass man ihn fast schon enzyklopädisch nennen kann.

Erstaunlich, wie Kathrin Schmidt das alles zusammentragen konnte und fraglich, ob Leser, die nicht in der DDR sozialisiert worden sind, das überhaupt würdigen können. Frida Hockauf und das Radio Rossini Stereo, der bulgarische Rotwein Gamza, der Spritzgussprojektor Weimar 2, der Plattenspieler Perfekt 215, die Kamera Reflex-Korelle und ihr Erfinder Franz Kochmann, der Volksentscheid am 6. April 1968 und die denkwürdige Liebknecht-Luxemburg-Demo von 1988, die Schicksale des Zygmund Bauman und der Rajzel Zychlinski - Aha-Effekte noch und noch angesichts der vielen Details, die hier versammelt sind. Dass Hermann Axen, Mitglied des Politbüros und vor meiner Zeit in diesem Hause Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, jüdischer Abstammung war und im Leipziger Adressbuch von 1931 Aksen hieß, ich hätte es vorher schon nachlesen können, erfuhr es aber erst aus diesem Roman.

Kommunisten wie er hatten mit religiösen Traditionen nichts am Hut. Kann man sich als Internationalist und gleichzeitig als Jude fühlen? Warum eigentlich nicht? Das denkt man heute. Aber in einem bestimmten Moment mag die Abkehr von der Herkunft auch als Emanzipation, als Befreiung verstanden worden sein. Raus aus dem traditionellen Familienverbund in eine Bewegung von Gleichgesinnten! Manche merkten dann später: Es hing ihnen immer noch an. Und wie viele wurden in der NS-Zeit als Juden verfolgt, obwohl sie sich eigentlich als Deutsche fühlten.

»Die jüdische Frage«: Wer heute darüber schreibt, kann wählen zwischen Schwarz-Weiß und verwirrender Buntheit. »Religion oder Volk. Kultur oder Abstammung. Sie diskutierten sehr erhitzt, ohne dass ich verstanden hätte, was sie entzweite.« So erinnert sich Claudia an ihre Eltern, die beide Kommunisten waren, in der DDR in verantwortlichen Positionen, aber durch ihre Bildung, ihre Erfahrungen auch zu manchem in Distanz.

Von ihnen und ihren Familien wird erzählt - sehr anschaulich, geradezu spannend gelingt die Handlung, wenn sie im Moskauer Exil spielt. Da kamen Kathrin Schmidt wohl auch viele Biografien zugute. Das Namensregister füllt sich weiter: Kalinin, Kaganowitsch, Sinowjew, Kamenew, Alexander Granowskij, der das jüdische Theater in Moskau leitete … Für den Fortgang der Handlung scheint es nicht notwendig, dass seine Geschichte erzählt wird, aber ich denke mir, dass der Autorin solche Fakten wichtig waren, um etwas zu bewahren, was sonst in Vergessenheit geriete.

Was für die Gestalten des Buches selbstverständliches Lebensumfeld ist, wird irgendwann ein versunkenes Territorium sein, wie es die DDR für viele heute schon ist. Kathrin Schmidt stammt aus Thüringen, wurde 1958 in Gotha geboren, studierte in Jena Psychologie und hat als Kinderpsychologin gearbeitet, sie ist Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, arbeitete am Runden Tisch in Berlin mit (auch das bedarf irgendwann einer Erläuterung) und ist seit 1994 als Schriftstellerin freiberuflich. Bereits 1982 hatte sie mit Gedichten begonnen. Von ihren bislang fünf Romanen war »Du stirbst nicht« der erfolgreichste. 2009 erhielt sie dafür den Deutschen Buchpreis.

»Kapoks Schwestern« handelt in einer Einfamilienhaussiedlung namens »Eintracht«, einst direkt an der Berliner Mauer gelegen. Ein ruhiges Fleckchen. Zwei nebeneinander liegende Häuser bestimmen die Gegenwartshandlung. In dem einen fristen zwei Schwestern, Claudia und Barbara Schaechter, ihr »Spätmädchenleben«. In dem anderen wohnt Renate Kapok, und vor kurzem ist ihr Bruder Werner nach jahrzehntelanger Abwesenheit dort wieder aufgetaucht. Die Eltern, die einander gut kannten - Kurt Kapok und Joachim Schaechter haben sogar eine Zeitlang zusammen bei der »Tribüne« gearbeitet - haben manches Geheimnis mit ins Grab genommen. Es gibt alte Leidenschaften, die Werner Kapok mit den Schwestern verbinden. Man erlebt, wie sie wieder aufflammen, und der Leser kann sich auf ein Romanende freuen, in dem alle drei in Liebesdingen reich beschenkt werden - Claudia mit Werner, Barbara mit einem Stadtrat der Linken aus dem Westen.

Ob das vielleicht etwas zu viel an glücklicher Erfüllung ist, kann man sich fragen. Aber die Autorin wollte das Buch nicht nur unterhaltsam machen, sie wollte die Romanwelt auch zu einer Harmonie führen, die keine Illusion ist. Alte Verletzungen können heilen, du kannst etwas zum Guten wenden, wenn du willst. Das ist die Botschaft über alle historischen Brüche hinweg.

Dabei sollte diese Romanwelt auch welthaltig sein. Was in den beiden Häusern geschieht, wird immer wieder durch Rückblenden und andere Handlungslinien unterbrochen. Die Nazizeit und, wie gesagt, das sowjetische Exil geraten ins Bild. In Sarajevo treffen wir eine lange verschollene Verwandte. Besucher kommen aus Tel Aviv, und etwas Denkwürdiges geschieht in Kalkutta: Ein kleines, grausam verwundetes Kind wird zu Claudia und Barbara ins Taxi geworfen. Den Frauen, jeder für sich, schießt es in diesem Moment schmerzhaft ins Gedächtnis, warum sie selber keine Kinder haben. Dieses bengalische Mädchen wird für das Glück der beiden noch eine große Rolle spielen.

All das ist mal ruhig berichtet, mal poetisch erzählt. Es wird diskutiert, zum Beispiel regt sich Barbara über den Umgang mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz und überhaupt über die deutsche Abgrenzung gegen die mitverursachte Armut auf. »Is doch nich annders als Mauerbau … Is doch’n schönet Jefühl, wa, dit wa jroß sin un bessa als die da unten, un wenn se komm, stehts uns zu, ze entscheiden, wer rin darf un wer nich.« Aber die Sache mit der Stasi, sowas musste man ja fast erwarten, wird nicht zugespitzt. Ja, Werner Kapok war IM und sollte Barbara beobachten. Aber er gestand es ihr, und sie machte sich einen Jux daraus, die Berichte selber aufzusetzen ...

Heute muss Kapok, einst Professor an der Humboldt-Universität, sehen, wie er sein Leben fristet. Im mecklenburgischen Trebesee arbeitet er fürs Stadtmuseum und als Gärtner. Er fühlt sich schuldig, denn aus einer geschiedenen Ehe hat er einen Sohn, um den er sich nicht gekümmert hat. Der taucht im Roman einmal auf, aber Kathrin Schmidt lässt diesen möglichen Handlungsfaden leider schnell wieder fallen.

Warnte das Lektorat, dass der Roman sonst zu umfangreich werden würde? An manchen Stellen wäre eine Straffung doch möglich gewesen. Und die Mühe um ein Register, obwohl solches eigentlich nicht zu einem Roman gehört, hätte sich gelohnt. Für spätere Leser, denen das Buch außer der packenden Geschichte viel Wissenswertes vermitteln kann.

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 444 S., geb., 22 €.

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