Wohin die Sieger verschwanden

In Lagern um Berlin sammelte die Rote Armee abgelöste Einheiten und befreite Landsleute

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 5 Min.

Brandenburg ist ein altes Kulturland, seine Städte, Dörfer und Landschaften sind vielfach geprägt selbst durch seine slawischen und frühchristliche Vergangenheit. Allgegenwärtig im Land aber sind jene Spuren der Verwüstung, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat und dessen letzte Schlachten im April und Mai 1945 hier geschlagen wurden.

Die Rote Armee hatte mit einem Heer von geschätzten 2,5 Millionen Soldaten weite Gebiete östlich von Oder und Neiße erobert. Ihre Führung stand vor der Aufgabe, die Fronttruppen schnell unterzubringen, mit harter Hand Disziplin und Ordnung wiederherzustellen und die überzähligen Einheiten und demobilisierte Soldaten auf die Rückführung in die Heimat vorzubereiten. Im Sommer 1945 verschwanden die siegreichen Besatzer mehr und mehr aus der Öffentlichkeit. Wohin sie gingen, zeigt eine Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst: »Zwischen Krieg und Frieden - Waldlager der Roten Armee in Brandenburg 1945«. Es ist die zweite Station nach dem Archäologischen Landesmuseum in Brandenburg/Havel.

Im Jahr 2014 waren Hobby-Archäologen in Wäldern im Havelland nordwestlich von Berlin auf zahlreiche sonderbare, rechteckige Vertiefungen entlang von Waldwegen gestoßen, mit denen sie zunächst nicht viel anfangen konnten. Die Enthusiasten, die mit behördlicher Genehmigung und eigens geschult mit Metallsuchgeräten das Gelände durchstreiften, fanden verrostetes Werkzeug und Haushaltsgegenstände sowie bald auch Hinweise auf die Anwesenheit von Soldaten - Uniformknöpfe, Schulterstücke, Orden, Trinkflaschen. Nur auf Waffen oder Gefallene stießen sie nicht. Auf ihre Entdeckung machten sie das Landesamt mit Sitz in Wünsdorf aufmerksam. Gezielte Grabungen brachten dann viele Funde zu Tage, die sich eindeutig Soldaten der Roten Armee zuordnen ließen. Andere waren deutschen Ursprungs, neben Nazi-Orden vor allem auch Koppelschlösser, bei denen versucht worden war, die NS-Symbole zu entfernen.

Thomas Kersting ist Dezernatsleiter im Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum und, wie er bei einem Vortragsabend im Karlshorster Museum betont, eigentlich spezialisiert auf die Slawenzeit und daher stets auf der Suche nach deren Spuren im märkischen Boden. Doch da er im Amt zuständig für die Bodendenkmalpflege ist, habe er sich auch mit den seltsamen Funden im Havelland ausführlich befasst.

»Erst seit 2014 sind wir dahinter gekommen, was es mit den Vertiefungen im Waldboden auf sich hat«, sagt er. Die Archäologen waren auf Überreste jener Waldlager der Roten Armee aus dem Sommer 1945 gestoßen. Die sonderbar regelmäßigen Eingrabungen hätten sich als provisorische Behausungen erwiesen - Erdhütten oder auch Unterstände. Auf derartige »Semljanki«, wie sie auf Russisch heißen, schlichte Blockhütten, halb in der Erde versenkt, stoße man über die Jahrhunderte hinweg überall im russischen Siedlungsgebiet. »Das Militär hat sie in eine Norm gebracht, die Abmessungen konnten wir in einem alten sowjetischen ›Handbuch des Partisanen‹ nachlesen, sie passten zu unseren Funden«, erläutert Kersting. »Selbst die deutsche Wehrmacht hat diese Hütten mit allen Maßen einfach komplett übernommen. Wir zeigen das in der Ausstellung anhand einer Dienstvorschrift für den Winterkrieg von 1942.«

Vieles, was bei den Ausgrabungen in den Wäldern ans Licht kam und in den Vitrinen zu sehen ist, löst Erstaunen aus. Sanitärarmaturen, Türbeschläge oder Porzellan aus deutschen Haushalten etwa kann man wohl als persönliche Beute begreifen, die die Sieger am Ende zurücklassen mussten. Das gilt auch für Orden oder Ehrendolche des Feindes, Uhren, Ferngläser, Feuerzeuge. »Wir gehen davon aus, dass die Lager nur eine begrenzte Zeit, vielleicht bis Anfang oder Mitte 1946 genutzt wurden«, so Kersting. »Die Armeeführung hatte damals auch das ›Plundersammeln‹ untersagt, so hat sich wohl mancher Soldat auch von weniger wertvollen Stücken getrennt. Im Boden haben wir nur noch gefunden, was dann auch noch die einheimische Bevölkerung in den später verlassenen Lagern liegengelassen hat.«

Manche Funde geben Rätsel auf. So sei man unter anderem auf Registrierungsmarken und Utensilien von sowjetischen Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen gestoßen. Es seien kurz nach der Befreiung im April und Mai 1945 zahllose Menschen, die die Nazis verschleppt oder in Lager gesperrt hatten, gen Osten, Richtung Heimat, unterwegs gewesen, sagt Kersting. Die Frage, ob auch sie in diesen Waldlagern gesammelt wurden und was mit ihnen geschah, kann der Archäologe nicht schlüssig beantworten.

Noch immer ist wenig Konkretes über die Waldlager bekannt. »Was wir genau kennen, ist eigentlich nur das, was die Archäologen zu Tage gefördert haben«, sagt Jörg Morré, der Leiter des Museums in Karlshorst. »Gewiss gibt es Unterlagen über die Einheiten der Roten Armee, die an der Berliner Operation 1945 beteiligt waren, wo sie bei Kriegsende standen und wo sie untergebracht wurden. Doch die Archive in Russland, vor allem das Archiv des Verteidigungsministeriums in Podolsk, sind uns nicht zugänglich. Und auch die Zusammenarbeit mit russischen Veteranenverbänden stößt da an Grenzen.«

Thomas Kersting helfen auch Hinweise aus der Bevölkerung. Bislang geht er davon aus, dass es allein in Brandenburg bis zu 60 Waldlager gab, weitere vermutlich in Mecklenburg-Vorpommern. »Das größte uns bisher bekannte Lager haben wir in Hoppegarten bei Müncheberg im Landkreis Märkisch-Oderland gefunden. Hunderte ›Semljanki‹ standen da, hochgerechnet reicht das für die Unterbringung von 30 000 Menschen«, sagt er. In unmittelbarer Nachbarschaft habe es offenbar zudem ein großes Zeltlager gegeben. Es bleiben viele Fragen, bei deren Beantwortung vielleicht mancher Besucher helfen kann.

Die Ausstellung ist bis zum 30. Oktober jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Zwieseler Straße 4 zu sehen.

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