Verengte Realität

Notizen von der Frankfurter Buchmesse

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Hindurch zwischen Eisblöcken aus transparenten Plasteplatten konnte man sich im Ehrengast-Pavillon Flanderns und der Niederlande von Insel zu Insel bewegen: Theater, Kino, Atelier, Bar, Shop. Umgrenzt war die spartanische Rauminstallation von einer Projektion der Nordsee, deren Wellen lautlos vor sich hin schwappten. Dahinter: Regale mit Büchern. Wer sich aber über den Strand aus roten Ziegelsteinen in den hinteren Winkel des Raums verirrte, fand sich vor dem Eingang eines ominösen »Collateral Rooms« wieder. Als ich hineinlugte, sah ich einen Mann in fortgeschrittenem Alter, der sich eine Art Stullenbüchse vor die Augen gebunden hatte, von der Antennen wegstaksten. Mit glücklicher Miene tastete er sich die Wand entlang. Offenbar befand er sich gerade in einer ganz anderen Welt als ich - oder, wie es auf der Tafel am Eingang zu lesen stand: in einem »Zimmer, das es nicht gibt«. Die »augmented reality« (AR), die erweiterte Realität also, ist auf der Frankfurter Buchmesse angekommen. Den älteren Herren führte sie in Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon auf der Weltausstellung 1929.

Das Gedrängel in den Gängen war allerdings so wirklichkeitsbegrenzt wie immer. Und den paar AR-Brillen, die auch anderswo zu entdecken waren, standen Hunderttausende von Büchern gegenüber, die sich ganz handfest in den Regalen türmten. Als Herausforderung im positiven wie im negativen Sinne ist die Digitalisierung längst von der Branche angenommen worden. Eine größere Rolle als die Fragen um ihre Auswirkungen auf den Buchmarkt spielten diesmal die politischen Folgen der »digitalen Revolution«.

Für sich genommen sei die Digitalisierung eine menschliche Kulturleistung, sagte Yvonne Hofstetter bei der Vorstellung ihres Buches »Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt«. Das Problem liege in den Umständen ihrer Entstehung und Entwicklung. Nicht die Politik, deren Aufgabe es sei, Welt zu gestalten, habe die rasante Veränderung unserer Lebenswirklichkeit seit der Einführung des Smartphones gesteuert, sondern große Marktakteure aus dem Silicon Valley. Das bedrohliche Szenario im Untertitel des Buches weist darauf hin, wie schnell künstliche Intelligenz in künstliche Dummheit umschlagen kann. Hofstetter will es als Appell an die politischen Akteure verstanden wissen, das Zepter wieder an sich zu reißen, bevor es zu spät ist.

Nicht weniger alarmierend ist das neue Buch von Harald Welzer, in dem er dasselbe Feld wie Hofstetter beackert: »Die smarte Diktatur: Der Angriff auf unsere Freiheit«. Auf der Messe war der Sozialpsychologe auf einem Podium mit dem Schriftsteller Dietmar Dath und dem Psychologen Jan Ilhan Kizilhan zu erleben, um über »Moderne Helden« zu reden. Im Fokus stand dabei der Dschihadismus. Kizilhan hat mit Alexandra Cavelius das Buch »Die Psychologie des IS. Die Logik der Massenmörder« geschrieben. In Nordirak sprachen er und seine Kollegen mit 1400 Frauen, die zu Versklavungs- und Vergewaltigungsopfern geworden sind. Interviewt haben sie aber auch einen inhaftierten hochrangigen IS-Kämpfer. Die interessante Erkenntnis von Kizilhans psychologischer Feldforschung: Bei dem Terroristen, der »sehr motiviert war, mit uns zu sprechen, um seine Taten zu rechtfertigen«, sei »ganz klar« keine psychische Erkrankung festzustellen gewesen. Stattdessen habe sich in seinen Aussagen eine religiös motivierte Entmenschlichung »ungläubiger« Menschen offenbart. Hinzu komme ein »Konzept von Leben und Überleben«, das mit dem westlichen nicht vereinbar sei: »Wir kämpfen, um zu überleben. Sie kämpfen, um zu sterben.« Aber nicht nur in ihrem Selbstbild seien die IS-Mörder Märtyrer und Weltverbesserer. Auch viele, vor allem junge Menschen im arabischen Raum und in muslimischen europäischen Communitys würden diese Männer als Helden verklären.

Ein Grund dafür, warf Dietmar Dath ein, sei das Gefühl der Demütigung durch den Westen. Das nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufene »postheroische Zeitalter«, von dem Welzer zuvor gesprochen hatte, verliere seine Glaubwürdigkeit, wenn der Westen seine Versprechen nicht hält. Bedeutsam die Feststellung, dass sich der IS bei der Verbreitung seiner Heldenerzählungen der Mittel westlicher Popkultur und des Internets bedient. Dath, der gerade ein Buch über »Superhelden« in Comic und Film geschrieben hat, konstatierte, dass es auch hier vor allem starke Männer sind, die Sieg um Sieg erringen. Wäre es nicht höchste Zeit, »anderen Heroisierungskonzepten« zu ihrem Recht zu verhelfen?

Wie wenig sich der Hass der Islamisten vom islamfeindlichen Hass in Europa unterscheidet, bemerkte der ZDF-»Terrorismusexperte« Elmar Theveßen bei der Vorstellung seines Buches »Terror in Deutschland. Die tödliche Strategie der Islamisten«. Wenn man das 1500-seitige Anders-Breivik-Manifest mit dem ebenso langen IS-Pamphlet vergleiche, seien bemerkenswert viele Parallelen in der Denkweise festzustellen. Auch Theveßen sprach von der »Doppelmoral des Westens« als fruchtbarem Boden für den Terror. Auf die Frage, ob es weniger Terror gäbe, wenn die Medien nicht so intensiv darüber berichten würden, antwortete er: Noch vor 20 Jahren wäre das vielleicht so gewesen. Aber heute, in Zeiten des Internets, nicht mehr. Angesichts der Vielzahl an ungeprüften Behauptungen, die dort kursieren, könnten Journalisten gar nicht anders, als gewissenhaft zu berichten und gründlich zu analysieren. Es gehe gerade nicht darum, Panik zu verbreiten, sondern Ruhe, denn die tatsächliche Gefährdung sei meist geringer als die gefühlte. Dass auch Kollegen nicht vor irrationalen Schlüssen gefeit sind, veranschaulichte Theveßen mit einem Beispiel: Als sie zur EM-Berichterstattung nach Frankreich gereist seien, hätten einige Sportjournalisten ihre Fahrräder mit nach Paris genommen - aus Angst, in der U-Bahn Opfer eines Anschlags zu werden. Dabei sei es ungleich wahrscheinlicher, im Stadtverkehr bei einem Unfall zu sterben als im öffentlichen Nahverkehr als Terroropfer.

Mit gefühlten Wahrheiten ist auch der Blogger Rayk Anders häufig konfrontiert, der in seinem Buch »Eure Dummheit kotzt mich an. Wie Bullshit unser Land vergiftet« von seinen häufig vergeblichen Versuchen berichtet, »in die Filterbubble aus Hass« vorzudringen. Auch Friedenspreisträgerin Carolin Emcke schreibt die zunehmende Enthemmung medialen Entwicklungen zu. Während ein paar Meter weiter die »augmented reality« gefeiert wurde, stellte sie nüchtern fest, dass Leute, die sich nur in den einschlägigen Internetforen bewegen, längst in einer »geschrumpften Wirklichkeit« angekommen sind.

Wer statt einer Verengung eine Erweiterung seines Weltverständnisses erstrebenswert findet, war auf der Buchmesse gut aufgehoben. Und er musste sich dafür nicht unbedingt eine AR-Brille aufsetzen, denn für die Realitätserweiterung sind hier seit jeher erhellende Sachbücher und die fiktive Literatur zuständig. Im Grunde genommen unterscheidet sich die Buchmesse in dieser Hinsicht gar nicht so sehr vom Internet: platte Propaganda und brillante politische Essayistik, Schmierenkomödie und großes Drama, verhunzte Sprache und höchste Wortkunst finden sich hier wie dort. Man muss sie nur zu finden - und zu erkennen wissen.

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