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Der Mord zum Sonntag

1000 Mal »Tatort« in der ARD: Dank immer wieder neuer Ideen ist die Krimi-Reihe nach wie vor erfolgreich

  • Matthias Dell
  • Lesedauer: 8 Min.

Der tausendste »Tatort«, der am gestrigen Sonntag ausgestrahlt wurde, trägt den gleichen Titel wie der erste, der am 29. November 1970 im Ersten Deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Und das macht die Sache schön kompakt: »Taxi nach Leipzig« heißt das Memory-Pärchen, mit dem man »Finde alle Unterschiede spielen kann«, um einen Begriff von der Geschichte der beliebten deutschen Fernsehreihe zu bekommen.

Die erste Differenz betrifft die Form des Krimis. Damals handelte es sich um eine klassische Tätersuche. Es gab die Leiche eines toten Jungen in der Nähe von Leipzig, und die Aufgabe für den Hamburger Kommissar Trimmel (Walter Richter) bestand darin, die Geschichte dazu zu rekonstruieren, also denjenigen zu finden, der Schuld an dem Tod des Jungen hat. Heute sitzt die Zuschauerin mit gleich zwei Kommissarinnen, Lindholm (Maria Furtwängler) und Borowski (Axel Milberg), auf der Rückbank eines Autos, das von einem posttraumatisch belastungsgestörten Afghanistanheimkehrer gesteuert wird, der vor aller Augen bereits den Mord begangen hat (an einem weiteren Polizisten). Die Geschichte wird also fast live miterlebt, und die Aufgabe für Lindholm und Borowski besteht darin, den Täter festzunehmen, von seinem Ziel, einer Art Amoklauf, abzubringen.

2280 Leichen in 46 Jahren

In 46 Jahren kamen im »Tatort« insgesamt 2280 Menschen ums Leben; statistisch gesehen gab es also 2,28 Leichen pro folge. Rekordhalter bei den Episoden mit den meisten Leichen ist interessanterweise Til Schweiger alias Kommissar Tschiller. Die Folge »Kopfgeld« von 2014 brachte es auf 19 Leichen. Spitzenreiter ist nach wie vor das grandiose, an Shakespeare orientierte Stück TV-Geschichte »Im Schmerz geboren« mit Ulrich Tukur und Ulrich Matthes (2014). Insgesamt konnten am Ende der Folge 51 Personen als »Geister« den Schlussmonolog sprechen.

In 21 »Tatorten« gab es überhaupt keine Toten; überwiegend sind dies Folgen aus den siebziger Jahren, in denen dem TV-Publikum bereits »Dracula«-Filme mit Christopher Lee als Blutsauger als »Horrorfilm« verkauft wurden. In diesen Episoden ging es »nur« um Entführung, Schmuggel oder Spionage. Der »Tatort« der siebziger Jahre war in diesem Sinne nah am »Polizeiruf 110« des DDR-Fernsehens, in dem es ebenfalls meist um vergleichsweise kleine Delikte wie Unfall mit Fahrerflucht oder Einbruch und Diebstahl ging.

80 Prozent der Leichen kamen durch Mord zu Tode, 129 Opfer starben bei einem Unfall, 203 nahmen sich das Leben, 36 starben eines natürlichen Todes. 81 Tote gingen auf das Konto der »Tatort«-Ermittler. Hierbei ist Nick Tschiller aber der Primus unter seinen Ermittlerkollegen: Elf Mal hat er in Rambo-Manier Kriminelle einfach »umgenietet«. Da konnte der vor wenigen Monaten verstorbene Götz George als Schimanski nicht mithalten: Er hat fünf Menschenleben auf dem Gewissen, brauchte dafür aber auch einige Jahre und eine deutlich höhere Zahl von »Tatort«-Auftritten als Schweiger. jam

Die Ermittlung von Trimmel war eine Rätselaufgabe, die »kleinen grauen Zellen«, wie es bei Agatha Christie heißt, wurden angestrengt. Lindholm und Borowski müssen zwar auch Informationen verarbeiten, bewegen sich durch ihren Fall aber wie durch ein Spiel. Der Unterschied zwischen damals und heute ist der zwischen Hans-Joachim Kulenkampff und Stefan Raab, zwischen »Einer wird gewinnen« und »Schlag den Raab«. Des einen Autorität als Mittelpunkt der Sendung stand nie zur Debatte, wohingegen der andere sich den Respekt durch Körpereinsatz erst wieder verdiente. Das geht den Kommissaren heut nicht anders. Nächste Woche wird der Wiesbadener Einmal-im-Jahr-Ermittler Murot (Ulrich Tukur) in Fall und Lösung involviert (»Es lebe der Tod«) - Effekte, die mit dem Zeitalter des Digitalen zu tun haben und der damit verbundenen Nivellierung von Hierarchie. Insofern ist das »Taxi nach Leipzig« von heute nur zeittypisch und nicht unbedingt spezifisch für den »Tatort«. Denn die genaueste Antwort auf die Frage, was ein »Tatort« sei, lautet nach wie vor: der Kriminalfilm, der am Sonntag- oder Feiertagsabend nach dem einschlägigen Vorspann läuft.

Hierarchie ist das Stichwort für einen anderen Unterschied zwischen damals und heute. Zumindest was sich davon in den Credits des Vorspanns zeigt. In der Auftaktfolge war nach dem Prolog an der innerdeutschen Grenze gerade einmal der Titel zu lesen und: »Ein Film von Friedhelm Werremeier und Peter Schulze-Rohr«, dem Drehbuchautor und dem Regisseur von »Taxi nach Leipzig«. Heute folgen nach dem Reihenvorspann dagegen ausführliche Informationen: die Schauspielernamen und Gewerketreibenden, also Kamera, Szenenbild, Kostüm, Schnitt, Musik, mitunter auch Casting. Die Autoren kriegen entweder den ersten Credit oder einen im Umfeld der Regisseurinnen, die immer an letzter Stelle genannt werden. Unmittelbar davor, also in größter Nähe zur künstlerischen Hauptverantwortung, wird dann entweder die Drehbuchautorin oder, in der Mehrzahl der Folgen, die zuständige Redakteurin genannt (die einzige Ausnahme bildet hier der MDR).

Während man sich diese Information für 1970 noch zusammensuchen muss (Dieter Meichsner), wird sie heute prominent platziert (Christian Granderath, Christoph Pellander). Das hat auch mit veränderten Anforderungen an den Beruf zu tun: Die Generation Meichsners legte den Beruf des Redakteurs theaternah als Dramaturg aus (der Brecht-Schüler Egon Monk war in den sechziger Jahren für den Fernsehfilm beim NDR verantwortlich), und es gehörte explizit zur Tätigkeit, selbst Bücher zu verfassen. Eine Fähigkeit, die spätestens seit dem Skandal um Doris Heinze 2009 als korrumpiert gilt: Heinze wurde 1991 beim NDR späte Nachfolgerin Monks, unter ihrer Ägide gingen die »Tatort«-Schauplätze der beiden aktuellen »Taxi nach Leipzig«-Ermittler, Lindholm und Borowski, an den Start. Der Skandal, der zum Rauswurf und einer Verurteilung führte, betraf eigene Drehbücher und solche ihres Mannes, die Heinze unter falschem Namen eingereicht hatte, um nicht nur das ihr seinerzeit noch zugesicherte Recht auf eigene Autorschaft mit fünfzig Prozent des Honorars entlohnt zu bekommen (als schon gut bezahlte Festangestellte), sondern den vollen Satz.

Eine umfassende historische Betrachtung des öffentlich-rechtlichen Fernsehredakteurs wäre aber nicht nur wegen solcher offensichtlichen Fehlentwicklungen interessant. Man könnte damit das Fernsehen generell besser verstehen. Denn gerade in einer wegen seiner Vielfältigkeit so langlebigen Reihe wie dem »Tatort« sind die kontinuierlich besetzten Fernsehredaktionen die einzigen Orte, an denen, freilich stark vermittelt, nach Autorenpositionen und Handschriften gesucht werden könnte. Dass das nicht leicht ist, zeigt etwa die Filmografie der RBB-Redakteurin Josephine Schröder-Zebralla. Die umfasst aktuell den - bislang in seinem Charakter noch unklaren - neuen Berliner »Tatort« mit Meret Becker (Nina Rubin) und Mark Waschke (Robert Karow). Listet zuvor die Ritter-Jahre von Dominic Raacke auf mit Hellmann (Stefan Jürgens), vor allem aber Stark (Boris Aljinovic) an der Seite, die gerade gegen Ende bemerkenswerte Filme produzierte. Und reicht noch zurück bis in die legendäre Roiter-Zeit mit Winfried Glatzeder (1996-98), mit der die damals noch SFB genannte Berliner ARD-Anstalt für Empörung sorgte: die flache, glatte Anmutung der aus Kostengründen auf Video gedrehten Folgen irritierte Sehgewohnheiten, die im Zeitalter des Digitalen Standard sind.

Die Roiter-Filme waren ihrer Zeit aber nicht nur bildästhetisch voraus; im Korpus der zwölf Filme finden sich idiosynkratische Entwürfe, deren cinephile Wiederentdeckung immer möglich sein wird. Anders gesagt: »Ein Hauch von Hollywood«, der Film, der beständig auf dem letzten Platz auf der Rangliste der Fan- und Datenerfassungsseite tatort-fundus.de geführt wird, ist in Wahrheit einer der besten »Tatort«-Filme, die je gemacht wurden, ein Fernsehtheaterspiel, das sich um die vierte Wand nicht kümmert und Montage als Mittel zum entschiedenen künstlerischen Ausdruck begreift.

In einer Historisierung, die sich an Kategorien orientiert, in denen Kino gedacht wird, wären die Roiter-Episoden die nicht kanonisierte, wegen ihrer künstlerischen Eigensinnigkeit aber gerade bemerkenswerte Gegengeschichte, eine Art experimentelles Bahnhofskino. Der Stiefbruder jenes genreaffinen Autorenfilms, den die frühen Kieler Finke-Jahre (1971-78) mit Klaus Schwarzkopf als Kommissar und Wolfgang Petersen (Regie, bis auf den letzten), Herbert Lichtenfeld (Buch) sowie Nils Sutrate (Musik, bis auf den letzten) vorstellen. In der Gegenwart fiele einem zuerst Dominik Graf ein als jemand, der tendenziell beide Strömungen verbinden könnte. Auf der anderen Seite ist der Treiber der »Tatort«-Geschichte natürlich Popularität, das übergroße Startum von Götz Georges Schimanski, das Manfred Krugs Paul Stoever auf seine Weise definiert hat (unter anderem: durch Singen), und für das heute, wie wir nach vier, fünf Filmen wissen, weniger Til Schweiger als vor allem Münster mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers als Thiel und Boerne steht.

Die »Taxi nach Leipzig«-Jubiläumsfolge von Alexander Adolph hat für solche geschichtlichen Bezüge viel Sinn. Sie nimmt den Titel der ersten Folge einfach wörtlich als Handlungsanweisung (ein Kammerspiel in einem Taxi, das tatsächlich nach Leipzig fährt), sie lässt zwei Kommissare aus verschiedenen Revieren interagieren (Hannover und Kiel), was in den ersten hundert Folgen als Gastauftritt üblich war, um der föderalistischen Idee der Sendereihe Ausdruck zu verleihen. Und sie verschafft historischem Personal kurze Auftritte: Karin Anselm sitzt im Publikum der Polizeitagung, auf der Adolphs »Tatort« beginnt, die zweite Kommissarin in der »Tatort«-Geschichte überhaupt und direkte Vorgängerin von Lena Odenthal (so kurz ist das her oder so lang Lena Odenthal schon dabei, suchen Sie sich was aus). Erstfolgen-Drehbuchautor Werremeier wird am Empfang eines Leipziger Stripclubs angeschaut, und Günter Lamprecht, Grenzer damals und vor Roiter Berliner Kommissar Markowitz, spricht auf der Tagung sogar ein paar Sätze (»Danke, dass Sie diese Veranstaltung schon so lange Jahre besuchen«).

Hans Peter Hallwachs, der 1970 einen DDR-Polizisten spielte, kommt auch kurz vor. Und in dem historischen Raum, den Adolphs Variation so unangestrengt öffnet, ist das der aufregendste Fall. Denn in der Filmschaffenden-Datenbank crew-united.de sind die ungenannten Rollen von Anselm, Lamprecht und Hallwachs mit ihren Figurennamen von einst vermerkt, also »Hanne Wiegand« (Anselm), »Franz Markowitz« (Lamprecht) und »Oberleutnant Peter Klaus« (Hallwachs). Was bedeutet, dass man sich als Zuschauerin selbst ausmalen kann, wie es etwa mit der Hallwachs-Figur weitergegangen sein mag durch fast fünf Jahrzehnte hindurch; wie der junge Volkspolizist von 1970 nach der Vereinigung mit Anfang 50 noch in den gesamtdeutschen Polizeidienst gewechselt ist, es dort vermutlich mit einem Vorgesetzten aus dem Westen zu tun gehabt haben wird, in einer womöglich schwierigen, unsicheren Zeit - für den Beginn von Peter Sodanns Ehrlicher-Episoden in Dresden wurde seinerzeit Gustl Bayrhammers Münchner Kommissar Veigl als »Aufbauhelfer« reaktiviert. So deutlich wurde der Ost-West-Gegensatz in den Folgen selten thematisiert, innerdeutsche Angelegenheiten waren eher Sache der Produktion von Doppelfolgen wie »Unter Brüdern« (mit Schimmi, Hauptmann Fuchs, Oberleutnant Grawe und Thanner), laut tatort-fundus.de die am häufigsten wiederholte, die quasi selbst, als Fernsehformat, etwas zum »Zusammenwachsen« (Willy Brandt) beitragen wollten.

In »Taxi nach Leipzig« von 1970 ruft Trimmel einen Kollegen in Leipzig an, den er »von früher kennt«, aus gemeinsamer Zeit bei einer nicht näher beschriebenen Polizeistelle in den Nazi-Jahren. In »Taxi nach Leipzig« von heute besucht der Ex-Oberleutnant Peter Klaus als Pensionär gut gelaunt die Klassentreffen mit den Kollegen. Und das Lächeln im von Geschichte so schön verwitterten Gesicht der Hans-Peter-Hallwachs-Figur darf man dann wohl als eine pointierte Bilanz unter 26 Jahre Deutsche Einheit verstehen.

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