Hast du Angst, eine Frau zu vergewaltigen? Schrei um Hilfe!

Jede dritte Frau wird geschlagen oder sexuell genötigt / Frauenrechtlerinnen beklagen zu wenig Aufmerksamkeit und Präventionsarbeit

  • Elsa Koester
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Mann bindet seiner jungen Ex-Freundin ein Seil um den Hals, das andere Ende knotet er an der Anhängerkupplung fest. Er steigt in sein Auto und fährt los. 250 Meter schleift er seine ehemalige Geliebte durch die Stadt - bis sich das Seil während der Fahrt löst. Die 28-Jährige wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht und notoperiert. Sie schwebt in Lebensgefahr. Das ist vergangenes Wochenende in Hameln passiert. Ein brutaler Einzelfall, den die Boulevardpresse breit tritt? Keineswegs.

Stelle dir vor, du wärst eine Frau. Die Wahrscheinlichkeit, dass du im Laufe deines Lebens körperliche Gewalt oder Vergewaltigung erleiden müsstest, läge bei rund 40 Prozent. Würdest du in einer Paarbeziehung leben, könntest du Pech haben und eine von vier Frauen sein, die von ihrem Partner geschlagen oder vergewaltigt wird. Wahrscheinlich ist, dass du dich dafür schämst und lieber nicht zur Polizei gehst. Und dass du unter Angstzuständen, Panikattacken und Schlaflosigkeit leiden.

Die genannten Zahlen stammen aus der letzten repräsentativen Studie in Deutschland, in Auftrag gegeben vom Familienministerium - im Jahr 2004. Aktuelle Daten zur Gewalt gegen Frauen sind rar. 2014 gab es eine EU-Umfrage der Europäischen Agentur für Grundrechte. Eine auffällige Forschungsmüdigkeit in einem Land, in dem das Geschäftsklima monatlich erkundet wird und in dem Versicherungsunternehmen das Risiko von Verkehrsunfällen oder Einbrüchen gründlichst untersuchen.

Was es gibt, sind polizeiliche Statistiken, die aber bei weitem nicht alle Fälle abdecken. Das Bundeskriminalamt veröffentliche diese Woche anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen seine Kriminalstatistik zu Gewalt in Paarbeziehungen. Demnach wurden im vorigen Jahr in Deutschland 104 000 Frauen von ihrem Partner getötet, vergewaltigt, verletzt oder gestalkt. »Wir brauchen diese Zahlen, denn sie helfen dabei, häusliche Gewalt sichtbar zu machen«, sagt Familienministerin Manuela Schwesig über die neue Statistik. Die listet jedoch nur Fälle auf, die der Polizei bekannt worden sind. Laut der EU-Studie zeigen aber nur 13 Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren haben, dies auch an.

»Die Datenlage ist unbefriedigend, es müsste dringend mehr Forschung geben«, beschwert sich deshalb Katja Grieger, Sprecherin des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). Dies sei vor allem notwendig, um festzustellen, ob und wie sich die Gewalt gegen Frauen in Deutschland verändere.

Terre des Femmes hat bereits einen Wandel festgestellt: Die sozialen Medien bringen neue Formen von Gewalt gegen Frauen hervor. »Dazu kann gehören, intime Fotos der anderen Person ohne Einverständnis zu veröffentlichen. Auch kann über die sozialen Medien viel stärker Kontrolle über den Partner oder die Partnerin ausgeübt werden«, so Birte Rohles von der Organisation.

Die sozialen Medien sind aber auch ein Kanal, auf dem eben das Schweigen gebrochen wird, das zu der Unsichtbarkeit von Gewalt gegen Frauen beiträgt. Dies zeigen jüngste Twitter-Debatten, in denen Frauen ihre Erfahrungen mit Sexismus und Gewalt berichten, wie unter den Hashtags Aufschrei in Deutschland oder notok in den USA. Je mehr das Schweigen gebrochen wird, hofft Terre des Femmes, desto mehr Frauen zeigen die Gewalt an.

Frauenrechtlerinnen sind sich zudem einig, dass sich die Situation von Frauen durch die Reform des Sexualstrafrechtes verbessert hat. Nach dem im Sommer beschlossenen Gesetz macht sich nicht nur strafbar, wer Sex mit Gewalt erzwingt - es reicht nunmehr aus, wenn sich der Täter über den »erkennbaren Willen« des Opfers hinwegsetzt.

»Es hilft aber nicht, nur das Strafrecht zu verschärfen und darauf zu hoffen, dass sich alles andere alleine klärt«, wendet Cornelia Möhring ein, die frauenpolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag. Die Abgeordnete fordert eine bundeseinheitliche und bedarfsgerechte Finanzierung von Beratungsstellen und Schutzräumen. »Beim Thema Frauenhäuser zieht sich der Bund jetzt schon seit 40 Jahren aus der Verantwortung«, so Möhring. Bislang finanzieren sich die bundesweit etwa 390 Frauenhäuser aus Spenden und freiwilligen Förderungen von Ländern und Kommunen. Oft wird die Finanzierung auf Sozialleistungen umgelegt. Tausende Frauen müssen jährlich abgewiesen werden, weil es nicht genug Plätze gibt.

Die Bereitstellung von Schutzräumen sei jedoch kein Mittel zur Eindämmung und Prävention von Gewalt. Dafür müsse man an den strukturellen Sexismus ran, meint Möhring. Frauenrechtsorganisationen fordern eine stärkere Aufklärung über Geschlechterklischees und Rollenbilder an Schulen.

Ein Blick auf die Rahmenbedingungen, in denen Männer zu Gewalt neigen, zeigt: Häufig ist der Anlass ein Kontrollverlust des Mannes. Die Studie des Familienministeriums ergab, dass die Frau in vielen Fällen eine Trennung ankündigte. Auch die Arbeitslosigkeit des Täters steht demnach häufig in Zusammenhang mit seiner Gewalttätigkeit. Der Bildungsgrad oder die Schichtzugehörigkeit hingegen spielen keine Rolle.

Gewalt gegen Frauen ist also auch ein Männerproblem. Es sei Zeit, dass der Mann vor Gericht stehe und nicht mehr das Opfer, fordert die britische Feministin Laurie Penny.

Eine witzige Idee zeigt eine Liste mit zehn Tipps gegen Vergewaltigung, die in den sozialen Medien kursiert. Sie beinhaltet den Rat an Männer: »Trage eine Trillerpfeife bei dir. Wenn du merkst, dass du kurz davor bist, jemanden zu vergewaltigen, dann pfeife laut, bis jemand kommt und dich davon abhält.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal