Die heimliche Lust am Spektakel

Warum sich Umfragen heute irren müssen

  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn etwas ganz anders ausgeht, als es viele vernünftige Menschen mit ihren wissenschaftlichen Instrumenten ermittelt und vorhergesagt haben, dann ist der Psychoanalytiker gefragt. War da noch etwas, das sich erst einmal im Unbewussten versteckt hat und dann, im Augenblick der Entscheidung, plötzlich die Hand zittern ließ?

Ja, da war etwas. Es lässt sich am besten mit einem Paradox beschreiben, das Schiller im »Wallenstein« auf die Bühne gebracht hat: »Ich weiß, ich weiß - Sie hatten schon in Wien / Die Fenster, die Balkons voraus gemietet / Die Schlacht hätt’ ich mit Schimpf verlieren mögen / Doch das vergeben mir die Wiener nicht / Daß ich um ein Spektakel sie betrog.« So könnte auch Hillary Clinton sprechen. Von einem Politiker oder einer politischen Entscheidung kann sich die Wählerschaft Kompetenz und den Versuch erwarten, möglichst viel für das Volk zu gewinnen. Oder die Wähler glauben nicht mehr an politische Kompetenz. Sie zweifeln daran, dass Politiker etwas für das Volk tun. Noch sind sie unentschieden - alle sagen doch, wer da mehr von Politik versteht, länger im Geschäft, vernünftiger ist, selbstkritischer, freilich auch langweiliger... Dann kommt die Wahl. Voyeuristische Lust durchbricht die Schranken. Sie schlägt Vernunft und Selbstfürsorge. Wahrscheinlich, sagt sich der Wähler, lügen mich die Vertreter aller Parteien an, reden sich selber groß und andere klein. Warum nicht den bevorzugen, der auf jeden Fall das beste Spektakel verspricht, der dafür steht, dass eine Show abgeht und ich mich weniger langweile als gegenwärtig?

Langeweile scheint der heutige Wähler immer schwerer zu ertragen. Wer kann heute noch Stimmen fangen mit dem schönen Vergleich von Max Weber, Politik sei das langsame Bohren dicker Bretter? Eltern wissen, wie schwierig es ist, ein vom Bildschirm gefesseltes Kind in die reale Welt zurückzuholen. Soll ich meinem Partner vorwerfen, dass er schon beim Frühstück sein Smartphone interessanter findet als mich? Lieber greife ich selbst in die Tasche, um zu sehen, wo etwas Besseres passiert und ich virtuell dabei sein kann. Indem die Medienwelt eine konzentrierte soziale Welt anbietet, ersetzt sie den lebenden Tiger durch sein Fell. Das bunteste Fell gewinnt; wen kümmert es, dass wirkliche Tiger zu den gefährdeten Arten gehören?

Der reale Detektiv in New York feuert höchstens einmal zwischen Dienstantritt und Pensionierung auf einen Menschen. Der Polizist in einer Kriminalserie tut das jeden Tag mehrmals. Die Bildschirme haben es dahin gebracht, dass wir dramatische Ereignisse so lange als inszeniert erleben, bis sie von den Medien als wirklich geschehen berichtet werden. Von den Passanten, die das Attentat auf die Twin Towers vom 11. September 2001 beobachteten, dachten fast alle, das sei jetzt ein gewagter Stunt für irgendeine Filmproduktion. Erst als sie in den Nachrichten hörten, was geschehen war, nahmen sie diese Form der Derealisierung zurück.

Wenn Passanten heute einen Selbstmörder auf einem Dach sehen oder beobachten, wie ein Bankräuber mit einer Geisel aus einem Gebäude tritt, johlen und klatschen sie, als sei das Ganze eine Show. Dann empören sich die Medien über Gefühlskälte.

Die Öffentlichkeit dominieren vielfach Verhaltensformen, die sich als manische Abwehr des Alltags, der Routine, des Durchschnitts verstehen lassen. Nur der Superlativ bietet Halt über den Abgründen der Bedeutungslosigkeit. Nationalismus ist einer der beliebtesten Superlative. Der Ereignishype erinnert an das Verhalten Ertrinkender: der Zeitstrom fließt so schnell, die Vergänglichkeit ist so extrem, dass jedes Ereignis aus Leibeskräften schreit, ehe es versinkt.

Bis zum Augenblick der Entscheidung scheint eine im Fall von Brexit und Trump ausschlaggebende Gruppe von Wählern unentschieden, ob sie der Vernunft oder der Lust am Spektakel ihre Stimme geben. Ist der Moment da, greifen sie nach der Alternative, die das Spektakel verspricht. Wir bleiben in der EU - wie langweilig! Wir wählen eine Frau, die es schon einmal nicht geworden ist, deren Stärken und Schwächen wir kennen - wie öde. Egal, was die Vernunft und die Vernünftigen gesagt, ja was wir selbst als zweckmäßiger gedacht haben - wir wollen Show! Den Umfrageleuten haben wir das lieber nicht gesagt, nein, wir haben es eigentlich auch noch gar nicht gewusst, als wir gefragt wurden. Aber jetzt haben wir es getan!

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