Stau der Fragezeichen

  • Lesedauer: 2 Min.

Die Lettern eines Buches stehen still, und nur das Auge rast darüber. Ein Lied jedoch macht niemals Rast: Musik hat keinen Anker in der Zeit, sie treibt und wird getrieben. Wenzels Lieder sind wie dafür gemacht, auf Reisen gehört zu werden - beim träumenden Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges oder beim Versinken der Gedanken in den Wellen des Meeres, die gegen den Bug eines Schiffes schlagen. Wer um die ungebremste Schaffenskraft dieses Sängerdichters weiß, der ahnt, dass Wenzels Wesen auch in diesem Sinne zutiefst musikalisch ist: Die Rastlosigkeit hört nicht auf zu rumpeln in dem großen Mann mit der sanften Stimme.

»Wenn wir warten« heißt das neue, das vierzigste, Wenzel-Album. Warten - der Fluch des Getriebenen. Warten. Aber worauf? Auf Heimkehr nach geschlagener Schlacht. Auf das Durchbrechen der Mauern des verfluchten Knastes. Auf das Überwinden der Drahtbarriere, die auf der Flucht im Wege steht. Warten. Auf den Tod. Und auf Wiedergeburt. Aus jedem Takt der Platte drängt das Leiden am Stillstand, heult hungrig das Fernweh, fleht hoffend das gefesselte Herz nach Erlösung. Wenzel ist ein Romantiker, der das 19. Jahrhundert weit hinter sich gelassen hat, im 21., das nur noch Gegenwart kennt, aber um keinen Preis ankommen kann. Die 13 Lieder, auf Reisen quer durch Europa entstanden, sind durchdrungen von Fragezeichen, die immer schon da waren, nun aber im großen Stau aufeinandertreffen, um einander zu beäugen.

Es fällt nicht schwer, die von Wenzel & Band in fröhlicher Melancholie eingespielte Platte als Zeugnis einer Zwischenbilanz zu hören. Ein Zeugnis, in dem sich wachsende Zweifel am Zustand der Welt und auch am eigenen Tun mit dem unbändigen Drang zum weiteren Fortkommen balgen: »Ich schlag entzwei im blinden Zorn,/ Was kostbar mir gegeben,/ Beginne immerzu von vorn/ Zu suchen und zu leben.« mha

Wenzel: Wenn wir warten (Matrosenblau/Indigo). Wenzel & Band live am 9. Dezember, 20 Uhr, im Kesselhaus/Kulturbrauerei, Prenzlauer Berg

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