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Lasst uns die Toten begraben!

Familienschlacht in der Schlammgrube: »Antigone« von Sophokles am Nationaltheater Weimar

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Der eiserne Vorhang hebt sich nicht - allenfalls wird er im Laufe des Abends ein Stück zurück geschoben: Dunkel droht er im Hintergrund. Ein Grabstein aller hochfliegenden Träume. Alice Buddeberg hat in ihrer Inszenierung am Weimarer Nationaltheater wenig Rücksichten genommen: nicht auf die Zuschauer, nicht auf die Schauspieler, auch nicht auf den »Antigone«-Text von Sophokles, den sie erheblich einkürzt. Sie »korrigiert« wie selbstverständlich das fast zweieinhalb tausend Jahre alte Text-Denkmal. Das ist ein Risiko, das nur durch einen starken Gedanken gerechtfertigt werden könnte. Auf den warten wir jetzt.

Aber vorerst ist da nur Schlamm, der die gesamte Vorderbühne bedeckt. Das sieht eher nach Einfall statt nach Gedanken aus. Der Schlamm der Geschichte! Durch den waten sie hier knietief, wälzen sich darin, bedeckt schließlich alle vom gleichen grauen Schmutz.

Gleich zu Beginn steigen zwei junge Männer, Brüder, aus der Tiefe eines Grabens empor, betreten einen Strand und ringen miteinander: Polyneikes (Jonas Schlagowsky) und Eteokles (Erik Born) beim Schlammschubsen. Das ist der Krieg, der zur Vorgeschichte der »Antigone«-Handlung gehört. Die beiden Brüder töten sich gegenseitig im Machtkampf um die Thronfolge. Für König Kreon ist Polyneikes der Schuldige, ein Ehrloser über seinen Tod hinaus! Er befiehlt: Eteokles soll mit allen Würden bestattet werden, doch Polyneikes nicht. Vor aller Augen soll er verwesen, welch Fest für die Aasfresser.

Hier nun zeigt sich, worauf die Regisseurin hinauswill: Der Krieg gebiert lauter Untote, die durch die Geschichte gespenstern. Darum wird ihr das feindliche Brüderpaar, das in der Schlammkiste miteinander ringt, zum Leitmotiv. Das scheint schwierig.

Antigone, Schwester der beiden toten Brüder, empört sich gegen König Kreons’ Machtanmaßung deshalb, weil auch er sich nicht über das Gesetz der Götter stellen darf. Und das besagt für Sophokles: Aller Streit und alle Schuld der Lebenden enden mit dem Tod. Ein Leichnam ist ein Leichnam, mehr nicht. Er muss begraben werden, unabhängig davon, ob er im Leben schuldig wurde oder nicht. Also übertritt sie Kreons Verbot und begräbt Polyneikes mit eigenen Händen. Kreon fühlt sich bloßgestellt, er muss - so glaubt er - ein Exempel statuieren. Antigone soll sterben.

Man kann den Stoff auf verschiedene Weise interpretieren: Stellt Göttergesetz über Menschengesetz!, wäre so ein Ansatz. Alice Buddeberg folgt dem nicht. Einem »Göttergesetz« will sie offenbar nicht ihre Inszenierung überantworten. Für sie betreibt Antigone eine Art Anti-Politik und dieser wird zum Störfall der Machtmaschine. Doch welcher Natur ihr Einwand gegen Kreon ist, wird damit nicht gesagt. Nur eines passiert hier: Die Beerdigungsthematik rückt in den Hintergrund - und das scheint mir eine gravierende Fehlinterpretation.

Gewiss gebiert der Krieg lauter Untote, gleich ob begraben oder nicht. Sie tragen Zwietracht durch die Geschichte. Darum ist der tödlich endende Kampf zwischen Polyneikes und Eteokles keineswegs eine bloße Vorgeschichte, sondern ständig präsentes Verhängnis, das alle menschlichen Beziehungen vergiftet.

Doch die Frage ist: Welche szenische Lösung findet die Regie für diesen Ansatz? Immer wieder tauchen die beiden Schlammkämpfer auf, schubsen und stoßen sich gegenseitig nieder. Ein etwas monotones Bild, das schließlich so etwas wie ein Running Gag zu werden droht. Als sie wieder einmal minutenlang so heftig miteinander kämpfen, dass der Schlamm bis in die ersten Zuschauerreihen spritzt, tönt ein mehrstimmiges »Es reicht!« zur Bühne hinauf. Man hat es längst begriffen - und sorgt sich bei diesem Männerringkampf, in den schließlich auch Kreon (Sebastian Nakajew) noch hineingezogen wird, vor allem um Antigone. Die simple Frage lautet doch immer noch: Warum fordert sie Kreon heraus, bringt sich schließlich selbst zum Opfer? Da kommen wir um die folgenreiche Symbolik des Grablegungsthemas nicht herum.

Nora Quest steht als Antigone allein auf weitem Feld. Sie müht sich um Ausdruck, aber das Regiekostüm sitzt allzu eng. Sogar den Chor hat ihr die Regisseurin gestrichen, nun ist sie wahrlich allein in diesem kargen Kammerspiel, das mehr und mehr im Schlamm versinkt. Wenn sie Kreon, der sagt, der Feind werde auch im Tode nicht zum Freund, entgegen schleudert: »Mitfeindin war ich nie. Mitliebende seit je«, steht sie ohne den Beistand der Götter vor ihm. Denn diese sind nur im Chor präsent - aber den hat die Regie gestrichen. Die antike Tragödie als modernes Kammerspiel - was folgt daraus?

Diese »Antigone«-Inszenierung wirkt seltsam statisch, als wäre es ein Stück von Beckett. Ein Endzustand ist gesetzt, der die Frage nach »Mitfeindin« und »Mitliebender« überflüssig macht. Doch keineswegs ist es so, dass der »Antigone«-Stoff sich einem intelligenten Spiel jenseits konventioneller Bühnensprache entzöge. Sebastian Baumgarten zeigte im vergangenen Jahr am Schauspiel Leipzig die Antigone-Kreon-Welt als eine bizarre Puppenstube der Macht. Das hatte einen eigenen Rhythmus und eine frappante Dynamik, während bei Alice Buddeberg in Weimar der Stillstand kreist.

Buddeberg also will die Geschichte ohne die bei Sophokles allgegenwärtigen Götter erzählen. Einen ähnlichen chirurgischen Eingriff am Stück vollzog auch Heiner Müller mit seiner Adaption des »Philoktet«, aus der er die Götter ebenfalls vertrieb. Nur kam bei ihm etwas Entscheidendes hinzu: Während sich bei Sophokles Philoktet dem Odysseus nach einem Göttermachtwort aus den Wolken unterwirft, verweigert er sich bei Müller bis zum Schluss - und wird hinterrücks ermordet. Fazit: Der tote Held ist verwendbarer als der lebende! Dieser kapitale Gedanke rechtfertigte die Sophokles-Revision vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.

Auch das »Antigone«-Thema könnte man ohne das Göttergesetz verhandeln. Doch wenn man das Beerdigungsthema achtlos links liegen lässt, verliert sich der antreibende Gedanke, der Antigones Einspruch - Göttergesetz hin oder her - gegen Kreon so stark macht: Alle Kultur beginnt mit der Totenbestattung!

Während Alice Buddeberg die untoten Brüder durch die Geschichte (und ihre Inszenierung) gespenstern lässt, die Teilung der Welt in Tote und Lebende damit aufhebt, beharrt Sophokles auf der Trennung: Auf der Erde gehen die Lebenden, die Toten aber ruhen in ihr. Man könnte mit Heiner Müller ergänzen: Nur, was nicht richtig beerdigt wurde, geistert untot umher.

In der vorherrschenden Art der Gegenwart, sich den Tod vom Leibe zu halten, mitsamt dem damit einher gehenden Verlust von Riten und Zeremonien, kann man gewiss lauter »Expressumschlagplätze des Todes« (Ernst Jünger) erkennen, die zum Verlust von Kultur überhaupt führen. »Antigone« jedoch ist das Gegenteil eines Stücks über Untote, auch wenn das in der Schlammgrube dieser Weimarer Inszenierung so wirkt.

Nächste Vorstellungen: 22. Dezember; 8., 22. Januar

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