»Aber Christus ist doch heute geboren!«

Auf den Spuren des »roten Grafen« Alexander von Stenbock-Fermor

  • Bernd Havenstein
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Novembertag in Bremen, grauer, wolkenverhangener Himmel. Ein kalter Wind fegt über die Weser und peitscht mir den Regen ins Gesicht. Im Gewirr der engen Gassen, dicht bebaut mit den berühmten Bremer Häusern, finde ich schließlich die Adresse meiner Gastgeberin. Im Souterrain befindet sich die kleine Küche. Bewirtet mit Kaffee und Kuchen, taue ich auf. Und dann steht das so lange von mir gesuchte Stück auf dem Tisch. Ein wirkliches Wunder, dass es noch existiert.

Auf der untersten Scheibe der Pyramide stehen Maria und Josef neben der Krippe mit ihrem Jesus-Knaben. Hinter ihnen die drei Könige aus dem Morgenland: Melchior, Kaspar und Balthasar. Über der Szenerie des Bethlehem-Stalls kommt schon die zweite und letzte Platte, bestückt mit vier Schafhirten, die in blaue und grüne Mänteln gewandet sind, zwischen ihnen die Schafe. Den Rand schmücken grüne Spanbäumchen, wie sie für die Erzgebirgskunst typisch sind. Das Flügelrad besaß einst kleine Klöppel, die an die vier Messingglocken anschlugen. Diese Pyramide ist weit über achtzig Jahre alt und könnte aus der Borstendorfer Werkstatt von Rudolf Ender stammen, wie mir Konrad Auerbach, der Direktor des Seiffener Spielzeugmuseums, mitgeteilt hat. Aber das ist nur ein Detail dieses Objektes erzgebirgischer Volkskunst. Es war etwas ganz anderes, das mich so ausdauernd danach suchen ließ. Es waren die Menschen, die mit der Pyramide in Verbindung standen und stehen.

Angefangen hatte alles mit einem Geschenk an mich, der zerschrundenen Erstausgabe des Buches »Meine Erlebnisse als Bergarbeiter« aus dem Jahre 1928. Geschrieben hatte es Alexander Graf Stenbock-Fermor, damals sechsundzwanzig Jahre alt. Ich las die sehr präzise und lebendig beschriebenen Eindrücke des jungen baltischen Grafen über die harte Arbeit in der Zeche »Friedrich Thyssen« in Hamborn-Ruhrort, seine Erlebnisse mit dem Ruhrpott-Proletariat. Und ich bedauerte beim Lesen, dass es dieses Buch in der DDR nie zu einer Reprint-Ausgabe gebracht hatte. Aber hätte es die Zensur passiert, so wie der Autor die Arbeiterklasse beschrieb? Mir fiel dann ein, dass es die Erinnerungsreihe des Verlages der Nation gab, in der die unterschiedlichsten Menschen aus dem Bürgertum und der Wehrmacht ihre Biografien veröffentlicht hatten.

Tatsächlich waren Stenbock-Fermors Erinnerungen dort in erster Auflage im Jahr 1973 unter dem Titel »Der rote Graf - Baltischer Aristokrat, Weißgardist, Bergarbeiter, Widerstandskämpfer, Schriftsteller« erschienen. Ein Jahr zuvor war der Autor in Berlin-Wilmersdorf verstorben. Dieses Buch nun lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen weiteren Titel von ihm, den er drei Jahre nach seiner Bergarbeiterzeit, 1931, veröffentlicht hatte. Stenbock war in der Zeit der Weltwirtschaftskrise durch das dunkelste, bitterärmste Deutschland gereist, in den Frankenwald, nach Thüringen, ins Ruhrgebiet, ins schlesische Eulengebirge und auch zu den Spielzeugmachern im sächsischen Erzgebirge. Sein Buch hat er »Deutschland von unten - Reise durch die proletarische Provinz« genannt.

Mit Empathie beschreibt er darin die vielfältigen Figuren auf den Drehscheiben der Weihnachtspyramiden: »Ein Schnitzer ließ um das Christkind einen Eisenbahnzug fahren. Als man ihn darauf aufmerksam machte, es hätte doch zu jener Zeit noch keine Eisenbahnen gegeben, soll er erstaunt geantwortet haben: ›Aber Christus ist doch heute geboren!‹« Liebevoll schildert er das Spiel der Propeller, beschreibt die Figuren auf den Plattformen, die »silbernen, roten, blauen, goldenen Kugeln in allen Etagen« und die Schatten, die gespensterhaft an der Decke tanzen. »Schön sind diese Spielzeuge, die wir hier bewundern können«, heißt es dann, »Reste einer alten sterbenden Volkskunst, und sie würden glücklich machen, wenn man nicht in der Lohnliste blättert und erkennt, unter welchen Arbeitsbedingungen die Heimarbeiter ihre Werke schaffen.«

Stenbock-Fermor, aus ältestem baltischen Adel stammend, geht den anstrengenden Weg, politische Anschauungen seiner alten Klasse an der Wirklichkeit zu überprüfen. Er zählt bald zur breiten Schar linker bürgerlicher Kräfte in Deutschland, die sich mit dem Sozialismus vertraut machen und auch dafür kämpfen. In der Zeit des Faschismus gehört er zum breit vernetzten Kreis bürgerlicher antifaschistischer Widerständler, kommt in Haft, wird entlassen, erlebt das Kriegsende in Neustrelitz. Der sowjetische Stadtkommandant ernennt ihn im Mai 1945 zum Oberbürgermeister. Doch schon 1946 zieht er in seine alte Wilmersdorfer Wohnung - und wird Drehbuchschreiber für die gerade gegründete DEFA.

Basierend auf seinen Erlebnissen im Kohleschacht, vermochte er überzeugend das Buch für den Film »Grube Morgenrot« zu schreiben, nach einer wahren Geschichte, wie sie sich 1930 im schlesischen Bergbau zugetragen hatte. Slatan Dudow war es, der nach einem Gespräch mit dem durch Kriegseinwirkungen erblindeten Schriftsteller Joachim Barckhausen die beiden zusammenbrachte. Barckhausen war damals Lektor im Verlag Volk und Welt und hatte sich Ende 1945 von der Schriftstellerin Elfriede Brüning getrennt. Nach dem Erfolg des Filmes »Grube Morgenrot« wurden Stenbock-Fermor und Barckhausen zu einem äußerst produktiven Autoren-Gespann für die DEFA in den vierziger und fünfziger Jahren. Bei den Arbeiten am Film »Das Fräulein von Scuderie«, einem der erfolgreichsten Filme der damaligen Zeit, gelang es den beiden Autoren, Henny Porten, den Star der Stummfilm-Zeit, als Darstellerin zu gewinnen. Und auch an den Drehbucharbeiten für den ersten utopischen Film der DEFA, »Der schweigende Stern« nach Stanisław Lem, waren beide - neben Günter Reisch, Günter Rücker und Wolfgang Kohlhaase - beteiligt.

Barckhausen schrieb, dass Stenbock für die Arbeiten an historischen Filmen gerade bei der Charakterisierung der alten, feudalen Oberschicht eine unersetzliche Hilfe war. Als Vertreter eines alten livländischen Adelsgeschlechtes kannte er sich mit diesem Metier aus. Als die gemeinsame Zeit des Drehbuchschreibens bei der DEFA mit dem Bau der Mauer 1961 auslief (beide Autoren wohnten im Westteil der Stadt), blieben sie sich dennoch freundschaftlich verbunden. Die Weihnachtszeit feierten sie mit ihren Familien in der Wilmersdorfer Wohnung von Stenbock.

Und dann kam eine mich elektrisierende Textstelle im Buch »Der rote Graf«. Joachim Barckhausen schrieb im Epilog: »Eine alte Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge drehte sich geheimnisvoll und leise klingend, warf das Licht-und-Schatten-Spiel ihrer Kerzen über den festlich gedeckten Tisch. Stenbock hatte sie, als er 1930 seine Reise durch die ›Proletarische Provinz‹ machte, an Ort und Stelle erworben und in seinem Buch ›Deutschland von unten‹ beschrieben. Nun hatte sie meine jüngste Tochter, sein Patenkind, geerbt.«

Mich bewegte von nun an die Frage, ob diese Pyramide noch existierte. Und wenn ja, bei wem? Als erstes versuchte ich, Christiane Barckhausen-Canale zu befragen. Ich wusste, dass sie die Tochter von Joachim Barckhausen und Elfriede Brüning war. Doch trotz vielfältiger und monatelanger Bemühungen blieben meine Versuche einer Kontaktaufnahme zu ihr erfolglos. Erst über einen durch diese Zeitung vermittelten Kontakt zu Jasmina, der Tochter von Christiane, kam ich endlich auf die richtige Fährte. Denn Barckhausen hatte 1948 erneut geheiratet und noch zwei weitere Töchter bekommen. Nun hatte ich eine Spur in Bremen gefunden. Und zu meiner großen Freude hatte die damals von Stenbock mit der alten Pyramide beschenkte Andrea Barckhausen dieses Stück über all die Jahre in Ehren und am Laufen gehalten.

Selbstverständlich wird sich die Pyramide aus dem Erzgebirge auch dieser Tage wieder in Bremen drehen. So konnte ich einen langen Kreis schließen und gleichzeitig an Menschen erinnern, die der linken Sache verbunden waren - trotz aller Niederlagen, die sie vor und nach 1945 erleben mussten.

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