Iss den Teller auf, wir werden gefilmt!

»Vereinte Nationen« von Clemens J. Setz bringt am Nationaltheater Mannheim neue Fragen mit alten Mitteln auf die Bühne

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein transparentes Haus als Inbegriff der Mediengesellschaft. Welch ein Einfall! Darauf ist noch niemand zuvor gekommen, der sich auf der Bühne mit dem digitalen Wandel beschäftigen musste! Mal ehrlich: Solche Metaphern ziehen immer, aber die sichere Karte ist bekanntermaßen nicht immer die richtige. Und erst recht nicht für ambitioniertes Theater.

Na ja, am Nationaltheater Mannheim, wo just die Uraufführung von Clemens J. Setz› Kammerspiel »Vereinte Nationen« stattfand, hat man sich eher auf Altbewährtem ausgeruht: Klassische Zwei-Personen-Dialoge, ein kubisches Gebäude mit mehreren Zimmern, das sich dreht, eingeflochten in einen uralten Konflikt Dürrenmattscher und Brechtscher Provenienz. Geld oder Moral lautet die Frage, die sich das Paar Anton (David Müller) und Karin (Anne-Marie Lux) stellt. Um sich den Lebensunterhalt zu finanzieren, verkaufen sie Videos mit ihrer Tochter (Holly Bratek/Nina Gamet) an eine Agentur. Anfangs waren es noch sogenannte »Natural Szenen«, also unverstellte Aufzeichnungen. Da das skandalverliebte Publikum aber inzwischen nach »Wunsch-Szenen« verlangt, hat sich vieles verändert: Nun müssen die Eltern künstliche Konfrontationen schaffen und ihre Tochter vorführen, wenn sie etwa nicht aufisst. Was kommt danach? Schläge und Misshandlungen? Welchen Preis ist man bereit, für eine (scheinbare) Freiheit und für Wohlstand zu zahlen?

Man kann schon früh erahnen, worauf das Stück hinausläuft. Das Paar entfremdet sich und zunehmend wird unklar, welcher Realitätsstatus bestimmten Handlungen zukommt. War eine (nicht gezeigte) Ohrfeige an der Supermarktkasse authentisch oder bloß für das Publikum in Szene gesetzt? Einsichtig ist, dass der Regisseur Tim Egloff wie sein Autor Clemens J. Setz die Folgen der gegenwärtigen Fake- und Voyeurismus-Kultur verhandeln. Zwar gibt es ab und an Videoeinspielungen, beispielsweise von der schlafenden Tochter, der, wie die Zuschauer wissen, längst ihre Kindheit abhanden gekommen ist. Doch mehr wird auch nicht aus der Idee gewonnen. Ein durch und durch langweiliges und ganz und gar undramatisches Stück wird auf konventionellste Weise inszeniert. Der ganze Verlauf steckt fest, das Haus dreht sich mit den Figuren wie ein ewiges Gefängnis. Oben, auf dem Balkon, thront derweil der Herrscher Oskar (David Lau), Chef der Agentur mit Imperatorhabitus, der den Druck nach unten weitergibt. Dass das fiktive Publikum hinter den Bildschirmen immer mehr und härteres Material fordert, belegen die Klickzahlen. Was Aufstieg und Glück verspricht, kann doch nicht falsch sein, mögen sich Anton und Karin gedacht haben. Bald schon wird das Mobiliar aufgehübscht, sie trägt teure Kleider und erlesenen Schmuck, das Kind geriert dafür zur Puppe und trägt in einer Szene eine an das Horrorgenre erinnernde Maske.

Bereits mit »Spiel ohne Grenzen« hat sich das Nationaltheater Mannheim zum Programm gesetzt, die Erschütterung unserer Wahrnehmungskanäle durch die neuen Medien und angesichts virulenter Krisen wie Flüchtlingsströme und einem auseinanderfallenden Europa in den Fokus zu nehmen. Diese Entscheidung muss man begrüßen. Denn sie zeugt von einem Kulturverständnis, das für Einmischung, Partizipation und allen voran Wachrütteln sorgt. Indem uns die digitale Wolke umgibt, werden Grenzen zwischen innen und außen durchlässig. Dass Privatheit dadurch verloren geht, erkennen viele zu spät, weil Big Brother inzwischen keiner großen Kameras mehr bedarf. Das digitale Panoptikum ist unsichtbar und daher umso perfider.

Am Ende bleiben den Protagonisten in »Vereinte Nationen« nur die Sehnsucht nach Authentizität, nach einem Leben, wie es einmal gewesen sein soll, aber möglicherweise nie war. Weder ein »Zurück« noch ein »Nach vorne« gibt es. Beides lässt die Aufführung im Vagen. Stattdessen harrt sie aus und vertraut auf die Großzügigkeit des Zuschauers. Theater als Wartezimmer sozusagen. Nur worauf wartet man? Schließlich stellt sich nur ein Effekt ein: Ermüdung.

Nächste Vorstellungen: 19., 21. Januar; 12. Februar

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