Worüber Seneca sich empörte

Die Seidenstraßen - globale Handelsrouten von der Antike bis heute

Kamen dank Marco Polo die Spaghetti von Italien nach China oder umgekehrt? Eine Streitfrage, die wohl nicht mehr eindeutig zu klären ist. Ebenso wenig wie die von einigen Forschern geäußerte Vermutung, dass der Venezianer selbst nie nach China gereist ist. Weil es in seinen Berichten zu viele Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten gibt und er beispielsweise ausgerechnet die Chinesische Mauer nicht erwähnt.

Wie auch immer, selbst wenn Marco Polo lediglich die Erzählungen anderer Chinareisender zweitverwertet haben soll, vielleicht auch die seines Vaters und Onkels, deren Ausflüge ins »Reich der Mitte« nicht zur Disposition stehen, so trugen sich die von ihm in »Il milione« (auch unter dem Titel »Das Buch von den Wundern der Welt« über Jahrhunderte ein Bestseller) geschilderten Abenteuer, Begegnungen und Geschäfte auf und am Rande der alten Seidenstraßen zu. Die in der Antike und im Mittelalter allerdings noch nicht so hießen. Den Begriff »Seidenstraße« prägte erst der deutsche Geograf, Kartograf und Forschungsreisende Ferdinand Freiherr von Richthofen 1877.

In jüngster Zeit wird das Prinzip »Seidenstraße« wieder beschworen, so dieser Tage vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Doch nicht nur die Große Politik und die Wirtschaftslenker erhoffen sich in der Wiederbelebung alter Handelstraditionen Gewinn und Gewinne. De facto sind diese schon Realität. So konstatiert Peter Frankopan, Leiter des Zentrums für Byzantinische Studien an der Universität Oxford, in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt« (Rowohlt Berlin): »Von Ost nach West erhebt sich die Region der Seidenstraße von Neuem. Dafür gibt es offensichtliche Gründe. Der wichtigste sind natürlich die Bodenschätze der Region.«

Das wären etwa die Rohölreserven unter dem Kaspischen Meer, fast doppelt so üppig wie die der USA, die auf über eine Billion geschätzten Erdgasvorkommen an der Grenze zwischen Kasachstan und Russland sowie die Goldminen in Usbekistan und Kirgistan. Und die »seltenen Erden« Kasachstans, die für die Herstellung von Mobiltelefonen und Laptops nötig sind, bis hin zu den reichlichen, noch unerschlossen Schätzen der Mongolei, Chinas, Indonesiens. Indes, nicht allein die (fossilen) Ressourcen, vor allem die boomende Wirtschaft und die rasant wachsenden, modernen Städte der fernöstlichen Ländern lassen das Unternehmen »Neue Seidenstraßen« attraktiv und verheißungsvoll erscheinen. Schon 2004 unterzeichneten 30 Staaten ein Abkommen über eine Handelsverbindung von St. Petersburg bis nach Singapur, also über eine Distanz von nicht weniger als 140 000 Kilometern. Quasi prophetisch hat die UNESCO bereits vor der Millenniumswende Forschungsprojekte, Exkursionen und Konferenzen zur historischen Rekonstruktion der von ihr auf die Welterbeliste gesetzten alten Seidenstraßen gefördert.

Wann wurden jene erstmals befahren und begangen? Das wird man exakt nicht benennen können. In China gilt als »Urvater« der Seidenstraße Zhang Qian, ein kaiserlicher Gesandter, der zwei Mal, 138 und 115 v. u. Z., mit einem Tross gen Westen aufbrach, um Partner für eine militärische Allianz zu suchen, weiß der Sinologe Thomas O. Höllmann (»Die Seidenstraßen«, 2004).

Vermutlich waren es tatsächlich Kaufleute, Forschungsreisende und Gesandte aus dem »Land des Lächelns«, die sich als erste auf den Weg in ferne, unbekannte Gefilde aufmachten. Handelseifer, Entdeckerlust und Neugier auf andere Kulturen scheint im Osten früher und stärker ausgeprägt gewesen sein als im Westen. So ist aus der Zeit der Han-Dynastie eine Beschreibung des Römischen Reichs überliefert, in der es respektvoll heißt: »In Hinblick auf die Größe und die einheitliche Ordnung des Volkes steht jener Staat auf einer Stufe mit dem Reich der Mitte … Vom Charakter sind die Leute außergewöhnlich rechtschaffen. Auf den Märkten gibt es einheitliche Preise; Getreide und andere Nahrungsmittel sind stets billig. Das Land ist geprägt von Reichtum und Überfluss.«

Nicht von ungefähr auch gab Chinas einst wichtigstes Exportgut den Handesrouten von der pazifischen Küste bis zur Arabischen Halbinsel und Ägäis den Namen. Aber nicht nur Seide, sondern auch Gewürze, Baumwolle, Glas und Porzellan wurden von Ost nach West tranportiert. Zeitgleich fand ein reger kultureller Austausch statt, der zuweilen mit Missionierungsversuchen verbunden war. Die Kenntnis der Herstellung von Papier und der Buchdruck, aber auch das Schwarzpulver kamen über die Seidenstraßen in die arabischen Länder und gelangte von dort dann auch nach Europa.

Stärkstem Publikumsverkehr sollen sich die Seidenstraßen zwischen dem ersten Saeculum vor unserer Zeitrechnung und dem 13. Jahrhundert erfreut haben. Die Weltumsegelungen der portugiesischen Seefahrer und die Erfindung der Dampflok in England ließen die alten Handelswege allmählich verwaisen. Mit der Transsibirischen und der Bagdadbahn reiste man schneller. Die Globalisierung via Seidenstraßen war eine »entschleunigte«.

Globalisierungskritiker gab es auch früher schon. Miesepeter und Sittenwächter, die sich über aus dem Orient in den Okzident kommende Luxusgüter mokierten, wie die bitterböse Polemik von Seneca wider die Mode in seinem Rom bezeugt: »Ich sehe seidene Gewänder - wenn sie die Bezeichnung Gewänder überhaupt verdienen -, an denen nichts ist, womit man entweder den Körper oder überhaupt die Scham schützen kann. Wenn eine Frau sie anlegt, wird sie mit gutem Gewissen behaupten, sie sei nicht nackt. Diese Seidengewänder werden für einen riesigen Betrag von Völkern herbeigeschafft, die für ihren Handel nicht bekannt sind: nur damit unsere Frauen der Öffentlichkeit genauso viel von sich zu sehen geben wie den Ehebrechern im Schlafzimmer.«

Farbenprächtige Seidengewänder in raffiniertestem Design raschelten, miteinander wetteifernd, noch viel lauter an den späteren europäischen Fürsten- und Königshöfen. Auch zogen die abendländischen Herrscher das »weiße Gold« aus China dem irdenen oder blechernen Geschirr ihrer Ahnen vor. Von feinstem Porzellan zu speisen sowie das Gesottene, Gebratene und Gebackene je nach Wunsch mit Pfeffer, Muskat oder Safran zu würzen, erhöhte den Genuss. Heiß begehrt waren in Schlössern und Palästen ebenso das Gold aus Fernost sowie Edelsteine und Parfüm, Aphrodisiaka und Arznei gegen jedwede Beschwerden und Krankheiten.

All das indes musste erst einmal herangeschafft werden. Und das war äußerst aufwendig. Wer in der Antike oder im Mittelalter über die Seidenstraße reiste, hatte allerlei Erschwernisse auf sich zu nehmen, schier unüberwindliche Hindernisse zu bewältigen und tödliche Gefahren zu bestehen. Sein Weg führte über verschneite Pässe und ewiges Gletschereis, durch unwirtliche Wüsten und Steppen sowie teils auch über endlos erscheinendes Gewässer. Die alten Seidenstraßen führten durch die eindrucksvollen, mächtigen Gebirge Karakorum, Hindukusch, Tianshan und Pamir, deren Gipfel bis zu 7000 Meter in den Himmel ragen, durch die Sand- und Steinwüsten Gobi und Karakum, in denen die Temperaturen zwischen 35 bis 40 Grad über und unter dem Gefrierpunkt wechseln.

Antike und mittelalterliche Reisende mussten Lawinen, Sandstürme oder Erdbeben gewärtigen. Sie hatten sich ausreichend zu wappnen vor Hunger und Durst wie vor heimtückischen Überfällen von Wegelagerern. Einzig die fruchtbare Ebene zwischen Euphrat und Tigris mit zivilisierten und relativ stabilen gesellschaftlichen Ordnungen wie auch die kultivierten und gut organisierten Distrikte der indischen Rajas und das chinesische Kaiserreich dürften ein unbefangeneres, angenehmeres, erfreulicheres Reisen beschert haben.

Die von Ost nach West und umgekehrt ziehenden Missionen und Expeditionen zählten oft einige hundert Menschen, die mit einem riesigen Tross an Waren aller Art und Vieh für Transport, Verzehr und Verkauf loszogen. Die Karawansereien am Wegesrand, Orte lebhaften Austauschs wie der Besinnung und Besinnlichkeit, schützen sich gegen ungebetene Gäste durch starke Mauern.

Eine Reise über die alten Seidenstraßen konnte sich über mehr als ein Jahrzehnt erstrecken. Die Juwelenhändler Niccolò und Maffeo Polo, Vater und Onkel von Marco, brachen 1260 auf und kehrten nach neun Jahre in ihre Heimatstadt Venedig zurück. Ihre Route hatte sie zunächst an die Wolga, dann über Konstantinopel und die Krim durch das Herrschaftsgebiet der Goldenen Horde geführt, wo sie ein Jahr Gast von Dschingis Khans Enkel waren, und schließlich weiter über den Ural nach Buchara bis Beijing (damals: Khanbaliq). Kriegswirren hatten sie zwischenzeitlich aufgehalten. Auf ihrem Rückweg konnten sie sich sicherer fühlen, gab ihnen doch der Großkhan bei ihrer Abreise aus Khanbaliq ein Dokument mit, dass ihnen sicheres Geleit und freie Versorgung zumindest in seinem Reich garantierte. Im Gegenzug dafür sollten sie dem Papst eine Botschaft überbringen und ihn veranlassen, ihm geweihtes Öl aus Jerusalem sowie hundert christliche Gelehrte zu schicken.

1271 brachen die Polos erneut auf, ob mit oder ohne den 17-jährigen Marco. Offenbar aber mit dem Öl, jedoch ohne hundert Gelehrte. Zwei Geistliche, die anfangs mitwollten, machten alsbald auf dem Absatz kehrt. Was die Polos bei dieser 20-jährigen Geschäftsfahrt erlebten, hat später Messer Marco als Kriegsgefangener in genuesischem Kerker einem des Lesens und Schreibens kundigen Leidensgefährten in die Feder diktiert. (Nebenbei: In der DDR erschien ein wunderbares, zweibändiges Kinderbuch von Willi Meinck über die seltsamen Abenteuer und seltsamen Reisen des Marco Polo.)

Mit den Polos konnte sich Ibn Battuta messen, der in den Jahren 1325 bis 1353 mehr als 100 000 Kilometer hinter sich gebracht haben und wie Marco Polo verschiedenen Herrschern gedient haben soll. Auch die Authentizität seine Berichten wird teilweise angezweifelt. Der in Tanger geborene muslimische Forschungsreisende durchquerte wie die Polos die Halbinsel Krim und das Reich der Goldenen Horde, stieß bis Astrachan, Konstantinopel, Buchara, Samarkand vor und wurde vom Sultan in Delhi als Kadi (Richter) angestellt. Als Wissbegier ihn wieder in die weite Welt lockte, erlitt er zweimaliges Ungemach. Erst erleichterten Räuber ihn um seine Habe und hätten ihn gar beinahe gemeuchelt, dann wurde sein Schiff vor Ceylon von Piraten überfallen und sank. Wie durch ein Wunder überlebte Ibn Battuta, der nun eine Dschunke nahm, um nach China zu segeln.

Während der Heimreise entging der muslimische Globetrotter nur knapp dem in Palästina und Arabien gerade wütenden »Schwarzen Tod«, der Pest. Später sah sich Ibn Battuta noch auf der Iberischen Halbinsel um, besuchte Valencia und Granada und hernach das sagenhafte Timbuktu im heutigen Mali. Der bis an die Enden der damals bekannten Welt reisende Forscher starb 1377 in seiner Heimat, heute Marokko.

Wenn jemand eine Reise tut ... so kann er was verzählen. Das galt auch früher. Die Reiseliteratur florierte zu allen Zeiten. Große Nachfrage bei Kaufleuten, Missionaren und Entdeckern erfuhren Handbücher mit Tipps nicht nur fürs Gepäck, sondern auch Routen, Herbergen und Verhaltensnormen in anderen Ländern. So riet der durch Persien und China tourende Florentiner Kaufmann Francesco Balducci Pegolotti im 14. Jahrhundert in seinem »Reiseführer« all jenen, die seinen Spuren folgen wollten: »Zuerst musst du dir einen langen Bart wachsen lassen und auf das Rasieren verzichten.« Wichtig sei es zudem, »wenigstens zwei gute Burschen mitzunehmen«, außerdem ausreichend Proviant. Hilfreich sei auch ein mehrere Sprachen beherrschender Begleiter. Für gewöhnlich waren die Händler und Forscher in früheren Zeiten allerdings polyglott.

Es gab übrigens nicht nur die Seidenstraßen, sondern auch die Pelzstraßen, auf denen das Fell von Bären, Zobeln, Hermelinen, Füchsen, Mardern und Wieseln aus den Wäldern Sibiriens und Osteuropas nach China und Arabien gelangte. Sodann die Weihrauchstraße der Arabischen Halbinsel und die Bernsteinstraße von der Ostsee ...

Nudeln aus Kaxar (auch Kaschgar) gelten als die besten in ganz China. Sie heißen »Tiao zi«, gezogene Stränge. Also Spaghetti. Marco Polo weilte laut seinem Bericht in der alten Oasenstadt, die ein wichtiger Knotenpunkt der Seidenstraßen war. Über sie schrieb er: »Die größte und schönste unter den zahlreichen Städten heißt Kaschgar. Die Einwohner leben von Handel und Gewerbe. Händler aus Kaschgar reisen um die ganze Welt.«

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