Wird Berlin Hartz IV-freie Zone?
Die Deutsche Wohnen will in Kreuzberg die Bewohner einer ganzen Siedlung wegdämmen
Otto Suhr war eine Ikone der Berliner Sozialdemokratie. Die nach ihm benannte Siedlung am Nordrand Kreuzbergs ist ein Musterbeispiel der drohenden Verdrängung von Mietern durch energetische Sanierung. Mietsteigerungen bis zu 30 Prozent drohen durch die Maßnahmen, die im Sommer beginnen sollen.
In einem Offenen Brief wenden sich die Bewohner nun an die Politik. Nach der Privatisierung der einst landeseigenen Bestände im Jahr 2004 landete ein Teil der Siedlung nach einigen Zwischenstationen bei der Deutschen Wohnen. »Mit jedem Verkauf verschlechterte sich die Bewirtschaftung der Wohnanlage«, schreiben die Mieter.
85 Prozent aller Berliner Haushalte wohnen zur Miete. Doch der Markt arbeitet gegen sie. Waren 2007 noch 200.000 Mietwohnungen angeboten, waren es 2015 nur noch 85 000. Gleichzeitig verdoppelte sich das Angebot an Eigentumswohnungen von 70.000 auf 140.000.
Schon jetzt fehlen 100.000 Wohnungen in der Stadt, zuzüglich 25 000 Wohnungen für Geflüchtete. Der Wohnungsneubau kommt allerdings sehr langsam in Fahrt. Und wenn gebaut wird, dann vor allem Eigentum oder Luxus-Mietwohnungen. Selbst das landeseigene Wohnungsunternehmen GESOBAU bietet Neubauwohnungen für 12,20 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter an.
Auch landeseigener Neubau könnte bezahlbar sein. 4,61 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete wären machbar, sagt Andrej Holm. Nötig wäre dazu eine Mehrwertsteuerbefreiung, die kostenlose Überlassung von Grundstücken, der Wegfall der Eigenkapitalverzinsung und zinslose Darlehen. Mit dem jetzigen Modell liegt der Quadratmeterpreis bei 10,80 Euro. nic
»Unter dem Vorwand der Verbesserung der Wohnverhältnisse durch energetische Sanierung geht es ausschließlich um die Profitmaximierung dieses börsennotierten Konzerns«, heißt es weiter. Die Mieter selbst könnten auf der Strecke bleiben. Für die meisten von ihnen »wird die Miete nämlich nach Abschluss der Arbeiten nicht bezahlbar sein«, so das Schreiben. Im konkreten Beispiel soll die Kaltmiete für eine 63,55 Quadratmeter große Wohnung von bis 315,84 Euro auf 458,98 Euro steigen. Das liegt über den »angemessenen Wohnkosten« für Bezieher von Hartz IV. Die Mieter fordern von der Politik eine Überprüfung der Maßnahmen, Unterstützung und letztlich eine Rekommunalisierung der Siedlung. Diesen Mittwoch soll das Schreiben übergeben werden.
Wegen der Möglichkeit, elf Prozent der energetischen Sanierungskosten zeitlich unbegrenzt auf die Miete umzulegen, ist die Rendite für die Hauseigentümer zweistellig.
»Es gibt sogar eine investitionsfreie Möglichkeit zur Ertragssteigerung«, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm. »Bewohner mit alten Mietverträgen will man so loswerden.« Darum würden inzwischen Kündigungen und folgende Räumungsklagen mit absurden Begründungen ausgesprochen. Zum Beispiel wegen Schuhen im Treppenhaus oder weil nach mehrmaligem Wechsel der Hausverwaltung der Bewohner den Überblick verloren hat und die Miete auf dem falschen Konto landet. Holm berichtet das an diesem Montagabend auf einer Veranstaltung des Bildungsvereins Helle Panke. Das Interesse ist riesig, viele müssen draußen bleiben. »Berlin entwickelt sich zur Hartz IV-freien Zone«, sagt Holm. Während 2007 noch 100 000 Wohnungsangebote innerhalb der von den Ämtern vorgegebenen Kostengrenzen lagen, waren es 2015 gerade noch 9575. Die durchschnittliche Angebotsmiete lag 2015 bei 9,05 Euro nettokalt, die Bestandsmiete bei 5,84 Euro. »Selbst das liegt schon über dem Höchstsatz von 5,71 Euro für Einpersonenhaushalte«, sagt Holm. Bei größeren Familien sinkt der Satz auf bis zu 5,33 Euro.
131 000 bezahlbare Wohnungen fehlten schon 2015 für Haushalte mit geringem Einkommen. Auch absolut fehlt Wohnraum. Während von 1992 bis 2014 rund 200 000 Wohnungen gebaut wurden, nahm die Zahl der Haushalte im selben Zeitraum um 330 000 zu. Standen 1995 noch 108 Wohnungen pro 100 Haushalte zur Verfügung, waren es 2014 nur noch 96 Wohnungen. »Inzwischen kann niemand mehr an den Rand gedrängt werden, weil auch der schon voll ist«, sagt Holm. Im Außenbezirk Spandau lag 2014 die Wohnungsversorgungsquote auch bei nur 90 Prozent des Bedarfs. »Die Konkurrenz führt zu Diskriminierung«, so der ehemalige Wohn-Staatssekretär.
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