Die Alternative wohnt an der Milchhofstraße

Im thüringischen Weimar laufen gleich mehrere genossenschaftliche Wohnprojekte - selbst Berliner sind interessiert

  • Doris Weilandt, Weimar
  • Lesedauer: 4 Min.

Vororttermin in der Milchhofstraße im thüringischen Weimar. Wie der Name sagt, waren hier vor der Wende verarbeitende Betriebe ansässig. Am Tor der letzten verbliebenen Brache eines ehemaligen VEB versammeln sich am frühen Morgen Interessenten für eine Genossenschaft, die das Areal ausbauen und als Gewerbehof nutzen möchte. Alle verbindet ein Gedanke: Gemeinsam entscheiden, was auf dem Gelände passiert.

Vorstand Robert Gölzner, selbstständiger Konditormeister, erklärt das Prozedere: Die Genossenschaft »ProjektWerk« hat den Kaufvertrag für das Gelände unterschrieben. Jetzt haben die Mitglieder ein Jahr Zeit, den Kaufpreis aufzubringen. Der wird durch Genossenschaftsanteile, den Verkauf von Gewerbeflächen und einen Bankkredit finanziert. Für den Ausbau der großen Hallen sind Module vorgesehen, die von kleineren Produktionsstätten bis zu Ateliers mit Terrasse reichen. Der Grad des Innenausbaus kann individuell bestimmt werden. Jeder, der mitmachen möchte, erwirbt so ein Modul und hat danach die Garantie, dass die Miete stabil bleibt. Mit der kollektiven Finanzierung werden dafür die Grundlagen geschaffen.

Ein junges Paar mit Kleinkind, das bis vor kurzem in Kopenhagen gelebt hat und Designermöbel aus Holz entwirft, ist angetan von dem Projekt. Sie suchen Flächen in einem ansprechenden Ambiente für Büro und Showroom. Der zukünftige Weimarer Gewerbepark mit einem Mix aus Produzenten und Ideengebern scheint ihnen dafür gut geeignet. Mit einem ganz anderen Konzept bewirbt sich der Verein »Motion Play-ground«, der Sportbegeisterte anspricht. »Wir wollen Training machen und kein Geschäft führen«, erklärt der stellvertretende Vorsitzende Maik Blankenburg. Er findet das Gelände für die Errichtung eines eigenen Sportparks geeignet.

»Unser Ziel ist eine bunte Mischung. Das Viertel soll mit der Genossenschaft belebt werden«, sagt Sebastian Kirschner vom »Wohnprojektor«. Der studierte Biologe sucht mit seiner Bürogemeinschaft Grundstücke für genossenschaftliches Wohnen und Arbeiten. Durch die auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Transition Town Bewegung sensibilisiert, ist ihm klar geworden, dass die Privatisierung von Grund und Boden jede Idee einer lebenswerten Zukunft unmöglich macht. Die Preise steigen so rasant, dass sich nur Besserverdiener gute Wohnlagen leisten können. Dem will er mit seinen Mitstreitern entgegentreten.

Das erste große Projekt, das gerade realisiert wird, ist die Mietergenossenschaft »Ro 70«, die ein altes Krankenhausgelände in eine altersübergreifende, lebenswerte Wohnanlage für rund 200 Menschen, dazu Café, Läden und Gewerberäume verwandelt. Die Idee sorgt deutschlandweit für Interesse. Es gibt viele Berliner und Jenaer, die ihren bisherigen Lebensmittelpunkt aufgeben und wegen »Ro 70« nach Weimar ziehen. Sie wollen mit Gleichgesinnten zusammen sein, sich engagieren für eine Gemeinschaft, in der solidarisches Verhalten und kollektives Eigentum wichtig sind. Selbstverständlich, dass beim Ausbau auf Ökologie und Klimaschutz geachtet wird.

»Ich gerate jedes Mal in euphorische Stimmung, wenn ich auf dem Gelände bin«, schwärmt Kirschner, der bereits das nächste Mietgenossenschaftsobjekt in Bergern bei Weimar im Auge hat. Die »Wohnprojektoren« haben bei klassischen Investorenverfahren keine Chance. Sie versuchen, durch ihre Konzepte zu überzeugen. Nicht der Meistbietende, sondern der mit einem Konzept, von dem die Kommune durch Langzeitwirkung und positive Nebeneffekte profitiert, soll den Zuschlag erhalten. Dafür treten sie ein und überzeugen zunehmend. Die Grundstücke werden per Kaufoption für ein Jahr gebunden. Danach muss gezahlt werden.

»Bürgerprojekte brauchen Zeit. Sie scheitern nicht am Geld«, unterstreicht Kirschner. Die Genossenschaft muss sich erst zusammenfinden, die gemeinsamen Grundlagen zukünftigen Lebens klären. »Ro 70« gelang nicht im ersten Anlauf. Ein Teil der Gruppe, die den »Traum vom Dorf in der Stadt« umsetzen wollte, hat inzwischen eine andere Alternative zum teuren Wohnen gefunden. Als GmbH wurden sie Mitglied im Unternehmensverbund Mietshäuser Syndikat. Deutschlandweit gehören über 100 selbstorganisierte Hausprojekte dazu. Sie sichern den Bewohnern dauerhaft preiswerte Mieten, weil die Häuser dem Immobilienmarkt entzogen werden.

Auf dem Gelände in der Weimarer Milchhofstraße geht der Rundgang langsam zu Ende. Neben dem Zuckerbäcker haben ein Filmstudio, mehrere Designer, Handwerker und eine Porzellanmanufaktur ernsthaftes Interesse bekundet. Jetzt beginnt die gemeinsame Planungsphase.

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