Der Frankfurter Sex-Mob, der niemals tobte

Robert D. Meyer über die katastrophale Berichterstattung der »Bild« über angeblich massenhafte Übergriffe in der Silvesternacht

  • Lesedauer: 4 Min.

Seit der Kölner Silvesternacht vor etwas mehr als einem Jahr stecken die Medien in einem Dilemma: Nach den sexuellen Übergriffen vor dem Hauptbahnhof wurden insbesondere überregionalen Berichterstattern vorgeworfen, sich viel zu spät den Ereignissen angenommen zu haben. Ein Jahr später war es umgekehrt: Wochen vor dem Jahreswechsel wurde eifrig darüber spekuliert, ob und wie ein möglicher Mob erneut toben könnte. Wohl selten haben so viele Pressevertreter Silvester aus beruflichen Gründen auf den Partymeilen von Hamburg bis München verbracht, mit der vagen Vorahnung, es könnten Szenen wie in Sodom und Gomorra losbrechen. Nichts geschah.

Mehr als einen Monat später trumpfte »Bild« mit der Schlagzeile auf: »37 Tage nach Silvester brechen Opfer ihr Schweigen – Sex–Mob in der Freßgass«. Hatten Medien, Polizei, ja die komplette Öffentlichkeit erneut versagt? Das Boulevardblatt war sich sicher: Auf der Frankfurter Restaurantmeile mussten sich schlimme Übergriffe abgespielt haben.

Zunächst war die Rede von »einer Gruppe von rund 50 Arabern«, die weder Deutsch sprachen und sich sonst an keinerlei Regeln hielten. Im Verlauf des Beitrags verstieg sich »Bild« versessen in die Behauptung, nach Informationen des Blattes seien »900 größtenteils betrunkene Flüchtlinge mit dem Zug aus Mittelhessen nach Frankfurt gekommen«.

Das Bild des zügellosen Mobs, wie ihn sich rechte Scharfmacher nicht hätten besser ausmalen können. Da wunderte es nicht, warum die üblichen Verdächtigen von AfD über lokale Hetzseiten bis hin zum britischen Ableger von Breitbart.com aufsprangen und aus den »Köln-Ähnlichen Zuständen in Frankfurt an Silvester« (AfD Kassel) neue Belege für ihre These von der angeblichen Gefahr durch Geflüchtete aka »Nordafrikaner« fantasierten.

Wie »Bild« am Dienstag einräumte, war an der kompletten Geschichte allerdings nichts dran. Den Sexmob? Gab es nicht. Für das Boulevardblatt sonst unüblich korrigierte die Redaktion ihre Berichterstattung nicht wie sonst mit einer winzigen, versteckten Meldung, sondern an prominenter Stelle. »Entschuldigung in eigener Sache« hieß es fast einen Tag lang weit oben auf der Startseite von Bild.de. »Mit Bedauern muss die Redaktion feststellen, dass die wiedergegebenen Aussagen und Anschuldigungen der vermeintlichen Opfer in keiner Weise von der Polizei bestätigt werden und gänzlich haltlos sind«, gibt sich das Boulevardmedium kleinlaut und bittet »ausdrücklich für die nicht wahrheitsgemäße Berichterstattung« um Entschuldigung. Die Redaktion wolle nun intern klären, wie es dazu kommen konnte.

Einen Hinweis darauf liefert Katharina Iskandar auf faz.net. Sie führt aus, dass bereits kurz nach der Veröffentlichung des vermeintlichen Skandals Zweifel an der Darstellung angebracht waren. »Andere Gastronomen an der Freßgass’ konnten sich nicht an derartige Szenen in der Silvesternacht erinnern«, heißt es. Auch die Polizei fand nach erneuter Durchsicht der Einsatzprotokolle aus besagter Nacht keinerlei Hinweise auf einen mehrere Hundert Männer umfassenden »Sex-Mob«. Selbiger hätte auch anderen Besuchern der Frankfurter Gastroszene auffallen müssen, doch »Bild« verlies sich im wesentlichen auf die Schilderungen zweier Zeugen. Deren angebliche Beweggründe, einen Monat nach den angeblichen Übergriffen ihr Schweigen zu brechen, hätten »Bild« allein deshalb stutzig machen müssen, weil die Schilderungen Größenordnungen annahmen, wodurch es unmöglich sein konnte, dass davon in Zeiten sozialer Netzwerke nicht schon viel früher etwas bekannt geworden wäre. Ein Mob, den (fast) niemand gesehen hat?

Im Nachhinein brechen die Zeugenaussagen völlig in sich zusammen: Gegen einen von »Bild« zitierten Gastronom, der sich im Internet übrigens als AfD-Sympathisant zu erkennen gibt, ermittelt nun die Polizei wegen Falschaussage. Gegenüber der »Frankfurter Rundschau« hatte er erklärt, ausgerechnet die Aufnahmen der Videoüberwachung aus der Silvesternacht gelöscht zu haben. In der »Frankfurter Neuen Presse« behauptete er dagegen, die Anlage sei seit letzten Sommer defekt.

Noch klarer liegt der Fall bei einer von »Bild« zitierten Servicekraft namens Irinia A., die schilderte, Männer hätten ihr »unter den Rock, zwischen die Beine, an meine Brüste, überall hin« gefasst. Dumm nur: Das vermeintliche Opfer gestand inzwischen gegenüber der Polizei, zum fraglichen Zeitpunkt nicht einmal in Deutschland gewesen zu sein.

»Hätten die ›Bild‹-Medien von Anfang an sauberer recherchiert, nicht direkt alles geglaubt und verbreitet, was ihnen erzählt wird, hätte das alles vermieden werden können«, schlussfolgert Moritz Tschermak auf bildblog.de eine journalistische Binsenweisheit. Das eigentliche Übel ist aber: »Mit all der Folgeberichterstattung und den geteilten Artikeln und Kommentaren in den Sozialen Netzwerken, ist die falsche Nachricht vom 'Sex-Mob' in der Frankfurter Silvesternacht kaum noch einzufangen.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!