Kinderhaus im Dorf der Hoffnung

Der Berliner Verein »Haiti Care« gibt den Ärmsten der Armen eine Chance

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 4 Min.

Girlaine ist Fotografin. Manice als Tochter eines Schulhausmeisters ist Lehrerin. Jocy ist Kindergärtnerin. Natacha ist sogar Direktorin einer Schule. Katia studiert Ökonomie, Narlange Rechtswissenschaften und Holguine Hotelwesen. Charline hat ihren Bachelor in Wirtschaftswissenschaften gemacht.

In einem der ärmsten Länder der Welt gehört es nicht zum Alltag, dass Waisenkinder oder Jungs und Mädchen aus den schwächsten sozialen Schichten zur Schule gehen, studieren und Karriere machen. In Haiti besuchen 75 Prozent der Kinder keine Schule. 20 Prozent sterben, bevor sie fünf Jahre alt sind. Fast zwölf Prozent in dieser Altersgruppe sind untergewichtig. 300 000 Kinder müssen sich als »Restaveks« durchschlagen. Sie schuften unter sklavenähnlichen Verhältnissen. Im Jahre 2006 wurde geschätzt, dass 2,6 Millionen Mädchen und Jungs zwischen 5 und 14 Jahren Kinderarbeit leisten.

Für ein paar hundert von ihnen bietet das »Kinderhaus im Dorf der Zukunft« im Viertel Carridad von Port-au-Prince seit 2009 die Chance auf ein besseres Leben. Hier befinden sich die »Institution mixte de l’avenir« (eine Jungs- und Mädchenschule) und das Waisenhaus »Foyer des Anges d’Haiti«. Beide Einrichtungen werden von dem kleinen Berliner Verein »Haiti Care« finanziell unterstützt. Die oben genannten Personen sind Absolventen der Schule.

Natacha Marseille, die Leiterin des Waisenhauses und der Schule, zu der auch ein Kindergarten gehört, hat sich die Zipfelmütze des Père Noël aufgesetzt, denn bei unserem Besuch feiern die Kleinsten mit Gedichten, Liedern, einem Krippenspiel und natürlich der heiß ersehnten Bescherung gerade das Weihnachtsfest. Mädchen und Jungs haben ihr feinsten Kleidungsstücke angezogen. Sie sehen wie Prinzessinnen und Prinzen aus. Ihre Eltern, so erzählt Frau Marseille, stammen aus diesem Stadtviertel. Sie verdienen sich als Schneiderinnen, Tischler, Marktfrauen, Straßenverkäuferinnen, Rohrleger oder Tab-Tab-Fahrer ihren Lebensunterhalt. Es gehört zu den Aufnahmekriterien der Schule, dass die Schüler die Bildungseinrichtung per Fuß erreichen. Also nicht wie in den Stadtteilen der Wohlhabenden die Kinder mit protzigen Autos zur Privatschule gefahren werden.

In ihrem Büro berichtet sie später, dass die Bildungseinrichtung nach den Montessori-Prinzipien arbeitet, eine Miniklasse für Kinder unter zwei Jahren, einen Kindergarten, Vorschule, Grundschule und Oberschule bis zur 9. Klasse hat. Insgesamt 250 Kinder, dazu 50 »Außenschüler«, die nach der 9. Klasse weiter betreut werden. 50 Angestellte, darunter 25 Lehrer und Lehrerinnen, kümmern sich um ihre Zöglinge. Das Verhältnis der Schüler zu den Lehrern und Angestellten, so erleben wir es bei einem Rundgang immer wieder, ist entspannt, herzlich und respektvoll.

Wir sehen die Klassenräume, die Unterkünfte für einige Mitarbeiter das Computerzimmer und die Küche, in der die Mahlzeiten für Schüler und Angestellte zubereitet werden. Alles ist in Schuss und macht einen gediegenen Eindruck. Außerhalb der Hauptstadt gibt es zudem eine Farm, die zur Eigenversorgung beiträgt und Arbeitsplätze für Landarbeiter sichert. Neben dem Schulbetrieb besteht die Möglichkeit einer praktischen Ausbildung zur Software-Fachkraft, zur Montessori-Lehrkraft, zur Verwaltungsangestellten, aber auch im Schneider- oder Gärtnerhandwerk oder zum Landwirt. Der Schulbesuch ist nicht kostenlos. Doch die Gebühren sind gestaffelt, je nach Einkommen der Eltern. In sehr vielen Fällen handelt es sich um einen eher symbolischen Betrag.

Ein paar Wochen später sind wir in Berlin zu Besuch bei Barbara und Michael Kaasch, die als Herz und Hirn des Haiti-Vereins gelten. Sie hatten 2004 das Gelände der heutigen Schule gemietet und 2009 gekauft. Ein Jahr später wurden durch das verheerende Erdbeben auch ihre Pläne über den Haufen geworfen. Das alte Gebäude ist ein riesiger Schuttberg. 20 Schüler kamen außerhalb der Schule ums Leben und Dutzende verloren ihre Eltern. Barabara Kaasch kommen noch heute die Tränen, wenn sie von dem Desaster berichtet. Aber entmutigen ließ sich das Ehepaar nicht. Für ihr Engagement erhielt es 2010 die »Goldene Henne«. Mit dem Geld, das sie mit der Auszeichnung bekamen, nahmen der heute 68-Jährige und seine ein Jahr jüngere Frau den Wiederaufbau der Schule in Angriff - »so erdbebensicher wie nur möglich«, betont Herr Kaasch, »und unter Einbeziehung der Eltern.« Sie bildeten Eimerketten zum Wegräumen des Schutts. Und später halfen sie, das Baumaterial zu transportieren. So entstand eine enge Bindung zur Schule. »Das Vertrauen zu uns und unserem Verein wuchs,« sagt Michael Kaasch. Dazu trug auch bei, dass es »Cash for work« gab, der Einsatz finanziell honoriert wurde. Seitdem tragen die Kaaschs in Carredad den Spitznamen »Madame et Monsieur Cash«.

Möglich ist die Hilfe nur durch regelmäßige Spenden. »Kleine Leute, nicht große Firmen oder Unternehmer, sind unsere Spender«, berichtet der Vater des Projekts. Die Kleinbeträge kommen von Rentnern, sogar Obdachlosen und Hartz-IV-Empfängern oder einem Bürger, der gerade eine Privatinsolvenz überstanden hat. Es begann einst mit Spenden von Arbeitskollegen und weitete sich erfreulicherweise durch Mund-zu-Mund-Propaganda aus.

Michael Kaaschs’ Fazit: »Macht unser Engagement Sinn? Ja, es soll Hilfe zur Selbsthilfe sein. Die Absolventen unserer Schule haben eine Perspektive. Sie bleiben uns verbunden und unterstützen uns. Wir streben an, dass die jetzigen Empfänger eines Tages von uns unabhängig werden.«

Spendenkonto: HaitiCare e.V.

Commerzbank AG, Berlin

IBAN: DE70 1004 0000 0877 0000 00

BIC: COBADEFFXXX

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