Blockade von Leningrad? Kein Thema!

Bundesregierung denkt nicht mal an Opfer der Nazis

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist gerade drei Jahre her, dass der russische Schriftsteller Daniil Granin im Bundestag die Gedenkrede zum Tag für die Opfer des Nationalsozialismus hielt. Die Blockade durch Hitlers Truppen »traf die Stadt unvorbereitet, in Leningrad gab es keine Vorräte, weder Nahrungsmittel noch Brennstoff...« Der Gast schilderte, wie die Menschen unter Hunger, Bomben und Kälte litten. »Im Grunde warteten die deutschen Truppen in aller Ruhe und ohne besondere Anstrengungen darauf, dass der Hunger die Menschen in Leningrad in die Knie zwingt.«

Mit ihrer Blockade hielten die deutschen Truppen zwischen September 1941 und Januar 1944 fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. »Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle 900 Tage lang, erinnerte sich Granin, der als junger Soldat in den Gräben vor der Stadt lag. «Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. Die Chemiker in den Instituten destillierten Firnis. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus …»

Granins Rede findet kaum Nachhall. Das zeigt die Antwort der Bundesregierung an Jan Korte, Vizefraktionschef der LINKEN. Der hatte sich nach Entschädigungsleistungen für die Opfer der Leningrader Blockade oder deren Hinterbliebene erkundigt. Jüdische Überlebende hätten von der Jewish Claims Conference seit 2008 «eine Einmalzahlung in Höhe von 2556 Euro» erhalten, heißt es. So sei es im Einheitsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik geregelt worden. «Schädigungen, die nicht aus rassistisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz, sondern durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt.» Weiter liest man, dass die frühere Sowjetunion ja «in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt» und «im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet» habe.

Nach anderen Möglichkeiten von Anstand gefragt, teilt der Staatssekretär im Finanzministerium Jens Spahn (CDU) mit, dass es keine Gespräche mit Verantwortlichen von Sankt Petersburg, dem einstigen Leningrad, gegeben habe. Ausschließen will er sie nicht, man sei ja über «gemeinsame Akte der Erinnerung» mit der Regierung der Russischen Föderation in Kontakt.

Gewiss sei die Blockade «eines der vielen schrecklichen deutschen Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion», an die man die Erinnerung wachhalten solle, so Spahn, doch: «Unter dem Blickwinkel von rechtlichen Entschädigungsleistungen ist das Thema im deutsch-russischen Verhältnis allerdings abgeschlossen.»

Korte ist empört: «Die Bundesregierung sieht die Gräueltaten von Nazis und Wehrmacht in der Sowjetunion nicht als Ausdruck ›rassisch motivierter Verfolgung‹», Eine solche Geschichtsverfälschung hätte er «nicht mehr für möglich gehalten», erklärt der Linkspolitiker gegenüber «nd». Die Blockade von Leningrad war «integraler Bestandteil» des Vernichtungskriegs im Osten. Generalplan Ost, Kommissarbefehl, systematisches Verhungernlassen der sowjetischen Kriegsgefangenen - all das war Ausdruck der rassistischen Kriegsführung gegen die ›slawischen Untermenschen‹, wie es die Nazis sagten.« Dass eine deutsche Regierung, fast 72 Jahre nach der Befreiung, den rassistischen Gehalt der Kriegsführung leugnet, mache ihn »fassungslos«.

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