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Der Zug der Zeit

Ostermärsche, die Kraft der Masse und der Traum vom gewaltigen Protest

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Ostermärsche waren immer eine Kraft, ein Zeichen. In diesem Jahr waren sie nicht ganz so eine Kraft. Ein Zeichen schon. Für Widerstand - aber auch für abgedämpfte Energien?

Ein prinzipieller Tatbestand drückt. Nach einem hochideologisierten 20. Jahrhundert und dessen hierarchischen Zusammenbrüchen geriet kollektiver Enthusiasmus beträchtlich ins Zwielicht. Einerseits heilsam - denn US-Soziologe Richard Sennett spricht vom Auftrag der Demokratie, »das Individuum aus den Lockungen jeder Vermassung herauszulösen«. Aber ist Masse nicht gerade jetzt nötig? Gegen ungehemmt betriebenen Kapitalismus? Gegen Trump? Gegen Assad? Gegen Assads Gegner? Gegen Putin? Gegen Fremdenhass? Von der »organisierten Verlassenheit« des Menschen sprach Hannah Arendt; sie meinte dies als Ausgangslage für totalitäre Herrschaft und konnte noch nicht im Sinn haben, dass es einen Totalitarismus der medial bestimmten und konsumistisch dirigierten Gesellschaftsstrukturen geben würde, der auch aufs politische Bewusstsein drückt. Indem er kritisches Weltverhalten abdämpft, Menschen vereinzelt, sie ins allgemein Mittige zurückwirft, wo dann zwar Watte wächst, aber nicht Wut. Und wenn Wut, dann großenteils nur, um den Kopf gegen die eigenen vier Wände zu schlagen.

Der Mensch steckt so gründlich in innerer Ermüdung, in täglichen Kriegen der Entfremdung - ein Seelenfrieden ist da derart mühsam herzustellen, dass er letztlich auch ohne Bezug zum rebellierenden Citoyen auskommen kann. Vor allem kommt der Mensch zunehmend ohne Klassen- oder politischen Gruppenbezug zu Rande. Einst standen viele gegen ein Elend auf, heute eint sie nur noch das Elend, als derart Viele so allein zu sein. Das Bewusstsein für die helfende Potenz, die ein Zusammenschluss haben kann, verflüchtigte sich und wird vielfach gar nicht mehr vermisst. Gegen die Atomraketen, vor Jahrzehnten, wirkte und webte - mit der weltweiten Friedensbewegung - eine Bindungskraft, die aus jener sehr unmittelbar empfundener Furcht resultierte, das Gleichgewicht des Schreckens könne auf verheerende Weise zerbrechen. Jene Bewegung war eine Koalition der direkten existenziellen Betretenheit, ein Solidarakt unzähliger prophylaktischer Opfer. Sie würgte und wirkte: die Angst vorm Blendlicht der atomaren Apokalypse.

Die kruden, ruppigen, zerstörenden Dinge der heutigen Welt gehen uns zwar auch ans Herz, aber nicht wirklich unter die Haut. Irak, Syrien, Afghanistan - zu weit weg; es reicht für den Kopf: Protest!, aber es reicht nicht für die Angst. Wo die doch real schon weit größer ist, als sie von Vielen gefühlt wird. Noch einmal Trump, Erdogan, Assad, Putin: allesamt Verschlagene, Zwielichtige, und die medialen Lager, die anhand dieser Natternaturen in den geschützten Kommentarspalten ihr Für oder Wider austragen - es sind Trompetenstöße aus ideologischen Festungen, links wie rechts oder was es da sonst noch für Richtungen geben mag. Selbstbestätigung im inneren Kreis, Selbstbefeuerung der Frommen, die so immer frommer werden. Mehr nicht. Ob Elitenbashing oder neuer Proletkult oder diese pseudoradikale linke Überhebung, auf Wegen zur bürgerlichen Mitte, in anderen Parteien sowieso, werde der demokratische, kritische Geist verraten und verkauft: Geglaubt wird im Grunde keinem Agitator mehr - am wenigsten sogar (Irrwitz der Logik) jenem, der einer Wahrheit am nächsten käme.

Und dies vielleicht auch deshalb, weil es eben nicht mehr verfängt, alles in eine gehabte, geerbte, gewohnte geistige Ordnung bringen zu wollen. Es ist die Krux des Weltgeschehens: Indem »Menschen es nach ihrer Gewohnheit irgendwie unter Dach und Fach bringen müssen, bemerken dabei die wenigsten, dass dies jähe Geschehen ihr Dach und Fach längst in Stücke schlug« (Botho Strauß). Die Lehren: vergilbt, die Rezepte: verbraucht. Viele Leute: satt, und dies sogar unter der Fahne des Hungertuchs. Das ist das wahre Elend. Wohl dem, den das nicht anficht und der weiter ungebrochen hofft und analysiert und täglich neue linke Wendeszenarien erfindet. Ihm bleibt das träumende Denken reich an »alternativen Fakten«. Träumen geht auch ohne viele Leute.

In seiner Büchnerpreis-Rede von 2000 erinnerte Volker Braun daran, wie 1993 nur ein kleines Häuflein wacker wütender Bischofferöder Kalikumpel nach Berlin zog. Sie machten sich auf die Strecke, um gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren, und waren doch, trotz Kampf: auf der Strecke Gebliebene. Aufstand? Mitmarschierende Solidarität? Bitter, wenn dies das Zeit- und Westgesellschaftsfremdeste wäre, was sich momentan denken lässt. Ostdeutscher »Vormut«, so Braun, hatte einst einen Staat gestürzt, später jedoch: kein wirklicher Mut mehr, der einen gesellschaftsstiftenden Nachhall oder utopischer: einen Vorhall gebracht hätte. Statt derer, die hierzulande massenhaft aufstehen müssten, hat die Zeit Flüchtlingsströme gezeugt. Aufschreckendes Spiegelbild unserer Unbeweglichkeit in den massenhaften Isolationen. Grenzenlose millionenfach unterwegs, andrängend gegen das Schrankenlose unserer Privatisierungen.

»Strukturen gehen nicht auf die Straße«, hieß es im Paris des Jahres 1968. Es müssen schon Körper sein. Diese Wesen mit Schwerkraft, inzwischen schwerer denn je zu bewegen? Noch einmal Volker Braun: »Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat, wir werden es nicht aus den Strukturen herauswühlen.« Die Bereitschaft, überhaupt noch auf die Straße zu gehen - sie wurzelt für Viele kaum noch in jener althergebrachten Chance eines großen Aufgehobenseins. Eine Protestkundgebung - das ist womöglich nicht mehr die Hoffnung, sondern höchstens noch die Illusion, Politik beeinflussen zu können. Denn da ist dieser peinigende Doppelcharakter der Dinge, immer neu nachwachsend: In die Euphorie eingeschrieben ist die Enttäuschung, hinter der Begeisterung lauert schon der Schatten der Lähmung, der Zuversicht folgt die Depression. Und das Dunkle, Drückende hat stets größere Ausdauer als der entfesselte Wille, auf die Straße, auf die Barrikade, gar aufs Ganze zu gehen. Es ist das, was der Philosoph Norbert Bolz das über Generationen wirkende »Entwöhnungstrauma« der Moderne nennt, aus gelöst von den erwähnten idealistischen Überforderungen eben jenes 20. Jahrhunderts und seiner geopolitischen Folgen.

Trotz massiver Proteste gegen TTIPP, Trump und die Trutzburgen des diebischen Bankenwesens: Heutiger Zorn, der an Rebellion erinnert, wird morgen besiegt vom wiegelnden Realismus einer Politik, die zum Handel mit Kompromissen eher bereit ist als zum Handeln, das die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Und links funktioniert am reibungslosesten nur die Diskussion darüber, was links heute überhaupt sei. Traurig, vielleicht aber auch gut: Immerhin gemahnt es daran, dass vor dem Wort der Straße die wirkliche Idee stehen muss.

Aber aus dem Gemüt jener Menschen, die eine Ungerechtigkeit abschaffen wollen, ist das Anstürmen, das Aufbegehren freilich nicht auszutreiben. Der Traum nicht vom gewalttätigen, aber doch gewaltigen Protest. Der mehr ist als jener unzivilisierte Ungehorsam, der vor brennenden Polizeiautos posiert. Und wahr bleibt: Man kann sich auf der Straße Stabilisierkraft holen - die wohl bitter nötig sein wird, wenn die Geschichte zum nächsten Schlag ausholt, um uns als handelnde Subjekte zu widerlegen. Zynischster aller Impulse: Vielleicht ist ja bald wieder Verlass - auf eine nächste, größere, uns unmittelbar packende Angst.

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