Wahlen als Sprungbrett

Radikale Linke in Frankreich orientieren sich stärker auf künftige soziale Kämpfe / Ihre KandidatInnen haben ohnehin keine realistische Chance

  • Bernard Schmid, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Einem breiten französischen Publikum bekannt wurden die Präsidentschaftsanwärter der radikalen Linken durch die große Fernsehdebatte Anfang April. An dieser nahmen alle elf KandidatInnen teil, also auch die Lehrerin Nathalie Arthaud von der trotzkistischen Aktivistenpartei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf) und der Automobilarbeiter Philippe Poutou, Kandidat der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Die radikale Linke, die abgesehen von einigen kommunalen Mandaten vor allem außerparlamentarisch organisiert ist, hat es jedoch in diesem Jahr relativ schwer. Der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon zieht deren Klientel zum Großteil an, obwohl er eher ein sozialstaatlich orientierter konsequenter Keynesianer als ein marxistischer Revolutionär ist. Dennoch wussten sich Arthaud und Poutou bei der TV-Debatte zu behaupten.

Vor allem die scharfen Angriffe von Poutou auf den Konservativen François Fillon wegen der Scheinbeschäftigungsaffäre und auf die Neofaschistin Marine Le Pen blieben in Erinnerung. Poutou hatte Le Pen, die gerne die wetternde Volkstribunin gibt, als Privilegierte entlarvt, die eine falsche Pseudo-Fundamentalopposition spiele. Er fügte in Anspielung auf ihre Immunität als Europaparlamentarierin, die bald aufgehoben werden könnte, hinzu: »Sie berufen sich auf Ihre Immunität, um Vorladungen zu Anhörungsterminen bei der Justiz nicht Folge zu leisten. Wenn wir im Betrieb eine Aktion machen, dann genießen wir keine Arbeiterimmunität, wir können uns keiner Vorladung entziehen!«

Poutou wurde daraufhin in Online-Leserforen und auch bei einigen Medien vorübergehend zum Star, während Fillon - leise, wenngleich vernehmlich - zischte: »Dir werde ich einen Prozess reinwürgen!« - was er am folgenden Tag widerrief.

Der bürgerliche Ex-Minister Luc Ferry, bekannt für dumme Sprüche, entblödete sich nicht, bei Twitter über Poutous Kleidung zu spotten, da dieser im T-Shirt erschienen war, während andere Bewerber Schlips und Kragen trugen. Ferry fügte sogar noch hinzu, wenn die Linke sich so aufführe, dann sei es »kein Wunder, wenn die Arbeiter in Scharen Marine Le Pen wählen.« Dieses unqualifizierte Gerede trug Ferry scharfe Kritik auch in etablierten Medien ein; Poutou wurde zum Beispiel vom TV-Journalisten Aymeric Caron verteidigt.

Auch Arthaud vom Arbeiterkampf hatte »die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, der Erwerbslosen, der Rentner« und auch der kleinen Selbstständigen beschworen, während Leute wie Fillon sich selbst bereicherten und ansonsten die Interessen der Überprivilegierten politisch verteidigten. Die Pseudodebatte im Wahlkampf, die auf eine falsche Alternative zwischen Wirtschaftsliberalismus und EU-Austritt hinausläuft, wischte sie wiederholt energisch vom Tisch - mit dem Hinweis, die kapitalistische Realität sei im nationalen Rahmen nicht besser als auf EU-Ebene. Die nationalistische Schuldzuweisung an die EU sei so bequem wie falsch.

Vor allem Poutou kam nach der Fernsehdebatte in Umfragen aus dem Null-Komma-Bereich heraus und liegt derzeit bei rund zwei Prozent. Angesichts der zu erwartenden hohen Wahlenthaltung könnte es am Sonntag möglicherweise noch etwas mehr werden. Dennoch ist nicht mit einer Wiederholung der Vorgänge von 2002 zu rechnen, als nach fünfjähriger sozialdemokratischer Regierung unter Lionel Jospin die radikale Linke über zehn Prozent der Stimmen erhielt. Arlette Laguiller, die Vorgängerin Arthauds bei LO, erhielt damals 5,8 Prozent, Olivier Besancenot von der trotzkistischen LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire) holte 4,3 Prozent. Die LCR war die Vorläuferpartei des NPA; die Umwandlung zur breiteren und undogmatischeren neuen Partei erfolgte 2009. Derzeit kommt der Unmut nach fünf Jahren François Hollande eher dem Ex-Sozialdemokraten Mélenchon auf der einen und der rechtsextremen Scheinalternative auf der anderen Seite zugute.

Die radikale Linke orientiert sich weitaus stärker auf künftige soziale Kämpfe und betrachtet die Wahlen als Tribüne und Sprungbrett dafür. LO setzt dabei überwiegend auf Betriebsarbeit, der NPA auf die breitere Mitarbeit in den sozialen Bewegungen.

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