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Stechschritt und ein Wässerchen auf Djen Pobjedi

Notizen von einer Reise zum Tag des Sieges in Sankt Petersburg

Schon seit Tagen bereitet sich die Heldenstadt Leningrad, die seit 1991 wieder Sankt Petersburg heißt, auf den 9. Mai vor, Djen Pobjedi, den Tag des Sieges über den deutschen Faschismus. An den Uferkolonnaden und über die Brücken der Newa rollen Panzer und Geschütze, darunter der legendäre T-34 und »Katjuschas«, die von den deutschen Okkupanten dereinst »Stalinorgeln« genannten Raketenwerfer, in Richtung Stadtzentrum, zum Schlossplatz am Winterpalais. Touristen, die zur Eremitage wollen, einem der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt, müssen sich durch Militärtechnik zwängen und riskieren, benässt zu werden. Unbekümmert spritzen Soldaten ihre Fahrzeuge ab, schmieren Panzerketten und Reifen mit Altöl ein, damit sie am Tag der Parade glänzen. »Nicht gut fürs Grundwasser«, schimpft Slawik und wünscht den jungen Kerlen trotz alledem: »S prazdnikom.« Alles Gute zum Feiertag.

Die Boulevards sind geschmückt mit den Fahnen der Russischen Föderation und dem Sowjetstern, unter dem die Befreiung von faschistischer Barbarei erkämpft wurde. Rote Nelken schmücken die Denkmäler für die Toten des Großen Vaterländischen Krieges, auch auf dem Piskarjowskoje-Friedhof, wo 500 000 der über eine Million Opfer der Leningrader Blockade bestattet sind. Am Triumphbogen, der an die Bezwingung Napoleons erinnert, gratuliert ein Transparent »S dnjem pobjedi!«.

Das Staatsfernsehen stimmt seit einer Woche auf den 9. Mai ein. Mit Kriegsfilmen, darunter »Ein Menschenschicksal« nach Scholochows berührendem Roman sowie dem Opus »Befreiung«, mit Zeitzeugeninterviews, Talkshows über Kriegsökonomie und Dokumentationen über Schlachten, vor allem über die letzten um Berlin und Prag. Offenbar aktuellen Auseinandersetzungen geschuldet, wird auch ausführlich über den Krieg in Fernost gegen Japan berichtet, beginnend mit dem Grenzkonflikt 1938 am Chalchin-Gol.

Unsere Reisebegleiterin Angelika, eine Baltendeutsche aus Riga, die es in Sowjetzeiten nach Leningrad verschlug und die sich am 9. Mai ein »Wässerchen« (Wodka) gönnt, berichtet über die vielfältigen deutschen Einflüsse in der 1703 von Peter dem Großen begründeten Stadt an der Newa - auf Architektur, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Eng verquickt waren Deutsche und Russen einst auch dynastisch. Der reich bestückte Fundus der Eremitage im Simnij Dworez, dem ehemaligen Stadtschloss der russischen Monarchen, verdankt sich vielfach Schenkungen privater deutscher Sammler, weiß Angelika und wiederholt, auf ein Stillleben weisend: »Und hier sehen Sie wieder ein Bild aus Berlin.« Die von den Schätzen überwältigte Besucherin wagt nicht zu fragen, ob das eine oder andere Kleinod eventuell aus Beutekunst stammt. Beim Besuch von Zarskoje Selo, das mühsam nachgestaltete Bernsteinzimmer bewundernd, schämt man sich der gedachten Frage und dass man eine Deutsche ist. Historische Fotos zeigen den verheerenden Zustand der Sommerresidenz der Zaren nach Plünderung und Brandschatzung durch den »Stab Rosenberg«, Hitlers Beutejäger.

Auf dem Basar vor den Palästen von Zarskoje Selo möchte eine ältere Souvenirverkäuferin wissen, woher wir kommen. »Is Germanii?« Wir fügen hinzu: »Is GDR.« (Aus der DDR). Sie lächelt und erzählt, dass sie eine Blokadniza ist, eine Überlebende der 870 leidvollen Blockadetage. Sie war ein Kind und kann sich doch noch gut an den mörderischen Hunger und die vielen erfrorenen Menschen auf den Straßen erinnern. Trotz Opferrente vom Staat muss sie sich mit dem Verkauf von Matroschkas etwas hinzuverdienen, um über die Runden zu kommen. Sie wünscht uns einen schönen Aufenthalt in ihrer Stadt, die für sie immer noch Leningrad heißt.

Zurück im Hotel, werden wir von einer fröhlich-lärmenden Kinderschar überrascht, überwiegend zierliche Mädchen im Alter von sechs bis 16 Jahren mit langen geflochtenen Zöpfen. Meine Vermutung bejahen Tanja und Natascha: »Ja, wir wollen Primaballerina werden.« Sie sind stolz, am 9. Mai auf dem Schlossplatz tanzen zu dürfen. »Hoffentlich klappt alles. Wir haben sehr viel und sehr hart trainiert. Aber wir kommen alle aus verschiedenen Rayons. Deshalb haben wir heute noch eine Generalprobe mit den anderen Mädchen.«

Shenja, der Taxifahrer, der uns am Abend zum berühmten Marinskij Theater fährt, drückt uns ein Flugblatt in die Hand, das zum »Besmertni Polk« (Unsterbliches Regiment) aufruft. Bei diesem seit 2007 alljährlich am 9. Mai nicht nur durch russische Städte ziehenden Gedenkmarsch führen die Demonstranten Bilder von Familienmitgliedern mit sich, die im Krieg kämpften. Shenja wird mit seinem Großvater, Träger des Rotbannerordens, dabei sein.

Am Musentempel angelangt, zucken wir zusammen ob des plötzlichen unheimlichen Getöses. Über unseren Köpfen düsen Kampfjets, Bomber und Militärhubschrauber, eine Generalprobe der anderen Art. Am 9. Mai werden die Flugzeuge weiß-blau-rote Streifen hinter sich her ziehen, klären uns junge Leute vor dem Theater auf, die sich über unseren Schreck köstlich amüsierten.

Das »Unsterbliche Regiment« wird laut dem TV-Sender Rossija 1 in diesem Jahr in 40 Ländern »marschieren«, darunter in den USA, Kanada, Australien - und in Deutschland.

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