Melancholie und Zorn

Im Kino: »In Zeiten des abnehmenden Lichts« von Matti Geschonneck

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gab ein Buch, das stand wie kein zweites für Reform und Entstalinisierung Anfang der 60er Jahre: Solschenyzins »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«. Eine Momentaufnahme des Gulagsystem unter Stalin. Unter Chruschtschow konnte das Buch in der Sowjetunion erscheinen - und Ulbricht war ratlos. Müsste die DDR nicht eigentlich auch, wenn es die Sowjetunion vormachte ...? Man ließ es also ins Deutsche übersetzen, aber man ließ sich Zeit damit - und dann hatte es sich schon wieder erledigt mit der Reform.

Eugen Ruge hat mit seinem Drei-Generationen-Roman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« ein Panoramabild der späten DDR geschaffen. Aus der Perspektive des Enkels, der schließlich in den Westen geht (das Alter Ego Eugen Ruges) werden Eltern und Großeltern einer strengen Vivisektion unterzogen. Ist das überhaupt verfilmbar?

Wilhelm und Charlotte Powileit sind Kommunisten der ersten Stunde, die Nazi-Zeit überlebten sie im Exil in Mexiko. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, in den Osten natürlich, wurde er Parteifunktionär, jedoch nur einer der zweiten Reihe, weil er als Westexilant verdächtig blieb. Da konnte er mit noch so martialischen Sprüchen auftrumpfen. Da hatte jemand für die Kaderpartei zu viel von der Welt gesehen. Charlotte, die feinsinnige Intellektuelle hat ihren grobschlächtigen Mann gründlich hassen gelernt, aber nun sind sie beide zusammen sehr alt geworden, er feiert seinen 90. Geburtstag, seinen letzten, wie er lautstark verkündet.

Charlottes Söhne sind Wilhelms Stiefsöhne. Kurt Umnitzer hat die Zwangsarbeit als an den Ural deportierter junger deutscher Kommunist überlebt, er ist inzwischen Geschichtsprofessor und weiß, welche Wahrheiten für die Öffentlichkeit bestimmt sind und welche nicht. Sein Bruder jedoch starb im Gulag (dass Eugen Ruge ihn im Roman sterben ließ, erbitterte seinen 2011, zum Zeitpunkt des Erscheinen des Buches noch lebenden Onkel).

Kurt hat sich eine Russin mitgebracht, Irina, jene Frau, die ihn aus der Kälte holte, ihm half zu überleben. Sie aber ist unglücklich und trinkt viel zu viel. Ihre Mutter, Nadeshda Iwanowna lebt bei ihnen, sie spricht nur Russisch und träumt von Slawa am Ural, ihrer Heimat, gleich neben dem damaligen Gulag. Ansonsten verbringt sie ihre Tage damit, Gurken einzuwecken und diese dann zu verschenken. Das Gurkenglas als ständige Verlegenheit. Das Panorama ist noch längst nicht vollständig, denn Ruges Roman geht mit viel Personal durch verschiedene Zeiten und Weltgegenden.

Es bedurfte wohl eines so erfahrenden Drehbuchschreibers wie Wolfgang Kohlhaase, um klare Entscheidungen zu treffen, wie man aus dieser epischen Überfülle hundert Minuten Film macht, die jeder verstehen kann. Also gibt es nur einen kurzen Prolog mit Sascha und seinem Vater Kurt am Tag vor Wilhelms Geburtstag und einen Epilog auf dem Friedhof in Slawa, wo 1991 ein Mitglied der Familie beerdigt wird.

Matti Geschonneck und seinen Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase muss die Idee fasziniert haben: Ein einziger Tag soll diese Jahrhundertgeschichte erzählen! Der Weg des Kommunismus als Idee und Ideologie, wie ihn schließlich auch die DDR verkörperte - eingedampft auf eine einzige Szenerie. Wilhelms Geburtstag, der zugleich sein Todestag wird.

Mehr als neunzig Minuten also sind wir mitten unter den Gästen auf der Geburtstagsfeier von Wilhelm Powileit, der seinen 90. Geburtstag im Stile eines »Dinner for one« mit den üblichen offiziellen Gratulanten begeht, die ihn jedoch alle kein bisschen interessieren. Nur auf einen wartet er, seinen Enkel Sascha (Alexander Fehling), denn er ist der einzige in der Familie, der den großen Ausziehtisch aufbauen kann. Aber Sascha ist bereits im Westen, er ist soeben abgehauen - ein schönes Geburtstagsgeschenk für seinen vor Prinzipien starrenden Großvater.

Also rückt Wilhelm (großartig, wie Bruno Ganz auf der Grenze von Charakter und Wahn balanciert!) dem »Nazitisch«, wie er ihn nennt, mit Hammer und Nagel zu Leibe und Charlotte überlegt, ob es nicht wirklich höchste Zeit für einen Heimplatz wäre. Was sich hier abspielt, ist ein Bankett der Untergeher, das Kammerspiel als Endspiel. Nicht nur Wilhelm hat seinen Geist, von dem er - jedenfalls aus Charlottes Perspektive - nie viel besessen hat, inzwischen eingebüßt, sondern die ganze Gesellschaft scheint in leerlaufenden Ritualen erstarrt. Hat hier noch jemand einen neuen Gedanken, einen, der nicht mit Weglaufen zu tun hat?

Matti Geschonneck und Eugen Ruge, der Regisseur und der Romanautor. Zwei Kommunistenkinder, die gegen das allwissende Mittelmaß der vormaligen Arbeiter und Widerständler, die in der Pose der führenden Genossen alt und starrsinnig geworden waren, rebellierten. Gegen ihren Opportunismus, genannt Parteidisziplin, ihre ständige devote Unterordnung wider besseres Wissen! Voller Zorn gingen sie beide Mitte der achtziger Jahre in den Westen - und heute, dreißig Jahre später, denken sie noch mal neu über sich, ihre Väter und Großväter nach. Unter den Zorn mischt sich nun Melancholie - und auch etwas mehr Nachsicht mit ihnen.

Auf einmal erscheint ihnen die ganze Geschichte nicht mehr so einfach wie noch aus der Perspektive der rebellierenden Jugend. Denn nun haben sie selbst Kinder, die sie skeptisch anschauen. War wieder nichts mit dem Heldentum, im Alltag nicht und der Weltgeschichte erst recht nicht! Matti Geschonneck, Sohn des übermächtigen Erwin Geschonneck, Brecht-Schauspieler, Kommunist, der aus dem KZ kam, ein DEFA-Filmstar der ersten Reihe, bei dem er jedoch nicht aufwuchs (der Dokumentarfilmer Gerhard Scheumann wurde ihm zum Ersatzvater), lernte seinen Vater erst nach der Wende wirklich kennen. 1995 drehte er mit ihm »Matulla und Busch«. Nun erlebte der Regisseur seien uralten Vater als folgsamen Schauspieler.

Auch Eugen Ruge blickt heute anders auf seinen Vater Wolfgang Ruge, aus dessen Nachlass er »Lenin, Vorgänger Stalins« (2010) und »Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion« (2012) herausbrachte. Im Roman gibt es einen hartes Anfangskapitel: Der dement gewordene Vater, einst ein wortgewandter Anekdotenerzähler, kann nur noch das Wort »ja« sagen und läuft orientierungslos in Windelhosen durchs Haus. Der Sohn, Eugen Ruge verschweigt es nicht, empfindet diese Art Auflösung einer einstmals imponierenden Persönlichkeit als eigenen Triumph über die doch immer so perfekt funktionierende »Maschine«, als die ihm der Vater vorkam. Ja, Vatermord und Reue über diesen gehen hier nahtlos ineinander über.

Matti Geschonneck versucht - immer mit Hilfe Wolfgang Kohlhaases -, gerecht gegen die Mittelgeneration der DDR-Intellektuellen zu sein, jene, die die DDR nicht erfunden hatten, wie deren Väter, aber die sich auch nicht handstreichartig von ihr zu trennen vermochten, wie deren Söhne. Es ist die Rolle des Sylvester Groth als Kurt Umnitzer: ein Dulder, der so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten versucht, inmitten eines um sich greifenden Ausnahmezustands, sowohl im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich. Da implodiert jemand eher, als dass er jemals explodiert.

Wie Matti Geschonneck diesen 90. Geburtstag inszeniert, das hat etwas von einem Totentanz. Ein Reigen derer, die angesichts der vergehenden Zeit längst überfällig sind. Wie nicht abgelöste Soldaten von ihrem Posten, schlicht vergessen in ihrer ach so wichtigen Mission. Und so haben sie sich angewöhnt, sich selbst zu spielen, tagtäglich eine Imitation des eigenen Ichs abzuliefern, so, als ob man noch lebte. Wann begann das bloß?

Der Jubilar, ein betrogener Betrüger der Weltrevolution, zu dem die eigene Partei nur noch die Stellvertreter der Stellvertreter mit ihren Blumensträußen schickt, hat da als einziger eine nüchterne Selbstwahrnehmung. »Bringt das Gemüse auf den Friedhof!«, so kommentiert er die ihm überreichten Blumensträuße.

Die Schauspieler auf engstem Raum und mit oft nur kurzen Auftritten, müssen auf den Punkt Präsenz zeigen. Und sie tun es alle: Gabriela Maria Schmeide als Haushälterin, auf dem Sprung, die Macht im Funktionärshaushalt zu übernehmen, Natalia Belitski als von Sascha verlassene Schwiegertochter Kurt Umnitzers, Evgenia Dodina als heimwehkranke Irina, die kühl kontrollierte Hildegard Schmahl als Wilhelms Frau Charlotte, die ihren Mann nicht länger ertragen will, Angela Winkler als deren Künstlerfreundin ... Was für eine großartige Szenerie der Unerlösten!

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