Mit Bleistift und Revolver

Der Schulweg durchs Armenviertel in Guatemala ist mit Risiken gepflastert

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 5 Min.

Den Anblick der Leiche seiner Tante wird der Neuntklässler Wilson niemals mehr vergessen. Sie lag blutend auf dem Asphalt. In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt werden Schulkinder häufig Zeugen von Verbrechen und Gewalt. Viele trauen sich nicht mehr auf die Straße. Sie brechen die Schule ab, weil der Weg dorthin zu gefährlich ist. Wilson macht weiter. Aber bevor er morgens aus dem Haus geht, gibt er seiner Mutter immer einen zärtlichen Kuss. »Ich weiß ja nie, ob ich sie wieder sehen werde.«

Die Direktorin der Sekundarschule in dem Armenviertel La Peréz im Osten von Guatemala-Stadt möchte ihren Namen nicht nennen. »Seit 2011 bin ich für die Kinder an dieser Schule verantwortlich«, sagt sie und wirkt dabei wie eine Rebellin, die sich gegen die Atmosphäre der Gewalt auflehnt. »Unser Gebäude ist von einem Markt umgeben. Das Verbrechen ist immer ganz nah. Es gibt auch Tote. Das beeinflusst natürlich den Schulalltag. Viele Eltern haben Angst. Einige haben ihre Kinder von der Schule genommen.«

In Guatemala werden täglich im Schnitt 14 Menschen ermordet. In den meisten Fällen werden die Verbrechen nie aufgeklärt. Die Direktorin bemüht sich um Schutz für die Kinder. Das ist eine heikle Sache. »Wir sind zum Bürgermeister gegangen«, erzählt sie. »Er hat uns in seinem Büro empfangen. Plötzlich war da ein Fotograf. Am nächsten Tag stand auf der Internetseite des Rathauses ein Foto von mir mit dem Bürgermeister. Dazu die Überschrift: ›Eine Schuldirektorin bittet um Schutz vor Erpressung.‹ Zwei Tage später haben die Jugendbanden mich persönlich bedroht. Sie schrieben mir, ich hätte sie verraten. Sie würden auch mich töten.« Einige Wochen lang kam die Direktorin nicht zur Schule. »Aber jetzt ist sie wieder da«, sagt Mareli mit sorgenvollem Blick. »Ich glaube, sie hat Angst. Niemand weiß, was passieren wird.«

Nur jeder vierte Jugendliche in Guatemala besucht eine Sekundarschule. Der fünfzehnjährige Wilson sieht Bildung als seine beste Chance, eines Tages aus dem Armenviertel raus zu kommen. »Ich gehe mittags aus dem Haus. Wir wohnen am Ende einer Sackgasse. Hier fühle ich mich noch sicher. Aber sobald ich auf die große Straße komme, weiß ich nicht, was mich erwartet.«

Schon nach wenigen Metern trifft Wilson auf einen Mann in schmutzigen Hosen und einem grauen Unterhemd. Er ist wohl betrunken oder vielleicht auch auf Drogen. Er bedrängt den Jungen, ihm etwas zu essen zu geben. Aber Wilson geht unbeirrt weiter. »Die meisten von denen haben schon als Kinder mit dem Laster begonnen. Jetzt als Erwachsene kommen sie nicht mehr davon los. Deshalb schlafen sie auf der Straße und bitten die Leute um Geld. Wenn du ihnen nichts gibst, werden sie wütend, so wie der jetzt.« Wilson biegt auf die Hauptstraße seines Viertels. Der schmale Bürgersteig ist voller Produkte, die zum Verkauf angeboten werden: Gemüse und Fleisch, Spielzeug und Plastikbecher, Gebrauchtkleider und Holzbesen. Der Junge trägt das blitzsaubere, weiße Hemd seiner Schuluniform. Er deutet auf eine sandige Stelle am Boden. »Dort habe ich neulich gelegen. Ich kam genau in dem Moment vorbei, als geschossen wurde. Alle Leute warfen sich auf die Erde. Ein Mann wurde getötet. Er hatte einen Verkaufsstand mit Fleisch, Wurst und Schinken.« Bei solchen Morden geht es oft um Erpressungsgeld. Einige Ladenbesitzer wollen nicht zahlen oder können nicht.

Einen anderen Weg zur Schule gibt es für Wilson nicht. »Einige meiner Kameraden bleiben zu Hause. Die Eltern sagen, es sei zu gefährlich. Als letztes Jahr zwei Schüler getötet wurden, sind viele andere nicht mehr gekommen. Genau hier, wo wir geradestehen, ist der Junge gestorben. Und dort unten hat das Mädchen einen Blindgänger abbekommen. So was passiert innerhalb von Sekunden. Du schaust dich um und schon liegt jemand auf dem Boden und stirbt.«

Die vergangenen Monate waren besonders brutal. Wilson hat keine Ahnung weshalb. Er ist froh, dass die Polizei reagiert. Auf den Hauptstraßen patrouillieren jetzt einige Polizisten. »Die Zahl der Verbrechen in diesem Sektor hat deutlich zugenommen«, erklärt ein Mann in schwarzer Uniform. »Wir tun, was wir können. Aber wir haben nicht genug Personal.«

Der Polizist kennt die Methoden der Banden. »Die Bosse schicken ihren Opfern ein mobiles Telefon«, erklärt er. »Darauf werden sie angerufen und erfahren so, wie viel Geld sie zahlen müssen. Wer diese Summe nicht zahlt, wird ermordet.«

Ein paar hundert Meter weiter wird es laut. Der Markt beginnt. Eine Verkäuferin bietet Mangosaft in Tüten an, dazu Wackelpudding. Wilson erinnert sich an den Stand seiner Tante: »Ich bin jeden Tag zu ihr gegangen. Sie hat immer nett gefragt, wie es mir geht. Aber wenn ich jetzt dorthin schaue, ist der Platz leer. Sie ist 36 Jahre alt geworden.«

Ein Mann, der Schuhe repariert, kann sich gut an den Tag erinnern. »Es war sehr früh morgens, gegen sechs Uhr. Die beiden Killer kamen auf einem Motorrad. Einer ist abgestiegen und hat sie exekutiert. Als wir ihn gesehen haben, war sie schon tot.«

Wilsons Gesicht wird rot. Tränen steigen in seine Augen. In den Tagen nach dem Tod seiner Tante fiel es ihm schwer, seine Hausaufgaben ordentlich zu machen. »Doch nach einer Weile habe ich mir gesagt: ›Was soll das? Das war eben ihr Schicksal. Gott hat es so geplant.‹ Das muss ich akzeptieren. Im vergangenen Monat, als es passiert ist, habe ich mich sehr schlecht gefühlt. Aber jetzt ist wieder alles normal. Es bleibt nur so ein trauriges Gefühl.«

Wilson tritt durch das Tor des Schulgebäudes, das von einer hohen Mauer mit Stacheldraht gesichert wird. »Sobald du hier ankommst, denkst du: ›Gott sei Dank. Alles ist gut gegangen.‹ Dann kannst du dich wieder auf den Unterricht konzentrieren.«

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