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Ukraine: Pulverfass Korruption
Die Veruntreuung von Mitteln ist ein großes Problem für die Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft in der Ukraine
Ohne ausländische Hilfe geht es für die Ukraine schon lange nicht mehr. Das Land braucht Waffen, um sich weiter gegen die russische Invasion wehren zu können. Und Geld, um Staat und Gesellschaft am Laufen zu halten. Auf fünf Milliarden US-Dollar bezifferte Wladyslaw Raschkowan vom Internationalen Währungsfonds bereits 2022 den monatlichen Bedarf der Ukraine an ausländischen Geldern, um zu überleben. Die Hunderte von Milliarden für den Wiederaufbau kommen noch oben drauf.
Seit dem russischen Einmarsch vor drei Jahren ist der ukrainische Staatshaushalt in massive Schieflage geraten. Fast die gesamten Steuereinnahmen muss Kiew für das Militär und den Kauf neuer Waffen aufbringen. Sozialausgaben und Gehälter sollen vom Ausland gedeckt werden. Doch genau hier hakt es immer wieder. Im Vorfeld der Wiederaufbaukonferenz in Rom, die an diesem Donnerstag begann, berichteten ukrainische Medien, die Regierung habe bisher 23 Milliarden US-Dollar für das kommende Jahr »gefunden«, benötigt würden jedoch 42 Milliarden.
Die EU sucht nach Milliarden für das nächste Jahr
Diese Finanzierungslücke, die auch dem Rückzug der USA geschuldet ist, versucht die EU aufzufangen. Aus Brüssel meldet die »Financial Times«, man sei dort auf der Suche nach den fehlenden 19 Milliarden US-Dollar. Leicht wird das nicht. »Es gibt wachsende Bedenken für das nächste Jahr, und viele Beteiligte, die mit einem Waffenstillstand in diesem Jahr gerechnet haben, müssen ihre Berechnungen revidieren und erkennen, dass es bei jedem Ansatz ein Loch im Haushalt gibt«, zitiert die »Financial Times« einen EU-Beamten.
In Rom wird man dieses Problem verschweigen und auch ein anderes Thema wird zwischen den Glitzer-Handshake-Fotos und den vollmundigen Aussagen zur Solidarität mit der Ukraine nicht angesprochen werden: die schleppende Zahlungsmoral. Immer wieder kommen die versprochenen Gelder nicht zur vereinbarten Zeit an. Für Kiew ist das ein Problem, denn Kredite sind nur schwer zu bekommen und noch schwerer zu bedienen, sodass die Regierung immer wieder an die Goldreserven muss. Befürchtungen ukrainischer Medien, Kiew stehe vor der Zahlungsunfähigkeit und könnte damit in den Staatsbankrott schlittern, die zuletzt regelmäßig geäußert wurden, haben sich bisher nicht bewahrheitet.
Ukraine drücken gigantische Schulden
Dabei kann Kiew jeden Cent und jede Hrywnja gebrauchen, angesichts einer Staatsverschuldung von 181 Milliarden US-Dollar. Bis zum Jahresende sollen die Schulden einer Prognose des Internationalen Währungsfonds zufolge das Bruttoinlandsprodukt von 203 Milliarden US-Dollar überschreiten. Umso mehr rief die satte Gehaltserhöhung für Beamte von gut 20 Prozent seit Jahresbeginn Unmut in der Bevölkerung hervor, zumal andere Leistungen wie Renten deutlich geringer wuchsen und die Inflation nicht ausgeglichen wurde.
Anders als propagiert, glauben immer weniger Ukrainer an eine blühende Zukunft.
Das größte Problem bleibt indes die allgegenwärtige Korruption. Aussagen wie die von Premierminister Denys Schmyhal, der Kampf gegen die Korruption in der Ukraine sei von höchster Stelle gelobt worden und in der Ukraine gebe es »die größte und beste Antikorruptionsinfrastruktur«, kommen einer Realitätsverweigerung gleich. Ebenso fragwürdig erscheinen Einschätzungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Kiew würde gewaltige Fortschritte im Kampf gegen die Korruption machen und sie auf dem Niveau anderer europäischer Länder bekämpfen. Wenn dem so wäre, hätte ganz Europa ein Problem.
Der Jurist Mychailo Hontscharuk sieht darin ein Schema. Aussagen, die Ukraine würde entschlossen die Korruption bekämpfen, seien so alt wie der heutige Staat, schreibt Hontscharuk in einem Beitrag für RBK-Ukrajina. Getan hat sich allerdings wenig bis gar nichts. Wie zum Beweis bewegt aktuell der Fall Olexij Tschernyschow das Land. Der Vizepremier und Minister für nationale Einheit –ein Posten, den Präsident Wolodymyr Selenskyj eigens für ihn geschaffen hat – soll in einen Immobilienskandal verwickelt sein, der den ukrainischen Staat eine Milliarde Hrywnja (damals ungefähr 28,5 Millionen Euro) kostete und Tschernyschew selbst um 14,5 Millionen Hrywnja (300 000 Euro) reicher machte.
Kampf gegen Korruption bleibt zahnlose Losung
Um das Ausmaß der Korruption und deren Folgen zu erahnen, reicht ein Blick in ukrainische Medien. Die Nachrichtenseite Zensor.net führt »Veruntreuung von Geldern« sogar als eigenständige Rubrik.
Einer der Zugänge der vergangenen Tage: Olexandr Lijew, ehemals Leiter der Abteilung für wehrtechnische Politik, Entwicklung von Waffen und Kriegstechnik des Verteidigungsministeriums. In den Jahren 2022 und 2023 soll er Antipanzerraketen für 90 Millionen Hrywnja (damals rund 2,2 Millionen Euro) bestellt haben. Geliefert wurde unbrauchbarer Schrott.
Auf der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Rom beraten die westlichen Unterstützerländer der Ukraine an diesem Donnerstag und Freitag über den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg. Im Vordergrund stehen weniger konkrete Finanzzusagen als Vernetzung zwischen Geldgebern und der Wirtschaft. Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan (SPD) sagte, man wolle für den Wiederaufbau einen Fonds auf den Weg bringen. Im Vorfeld der Konferenz meldete die Nachrichtenagentur Bloomberg, dass der Fonds mit 100 Milliarden Euro ausgestattet werden soll, das Geld soll aus dem EU-Haushalt der kommenden sieben Jahre kommen.
Nach Angaben des Ukraine Support Tackers des Instituts für Weltwirtschaft Kiel haben Europa und die USA seit Kriegsbeginn 270,7 Milliarden für die Ukraine aufgewendet. Allerdings wird es zunehmend schwerer, neue Gelder zu akquirieren, weshalb die EU unter anderem die Zinsen aus eingefrorenen russischen Geldern an die Ukraine weiterleitet. Seit Jahresbeginn soll Kiew auf diese Weise 18,5 Milliarden US-Dollar erhalten haben. Die Praxis gilt als juristisch äußerst fragwürdig.
Angesichts der Zerstörung und der fehlenden Aussicht auf ein Kriegsende ist schon jetzt offensichtlich, dass die bisher zugesagten Gelder nicht ausreichen. In ihrer aktuellen Schätzung spricht die UN von 529 Milliarden US-Dollar, die in den kommenden zehn Jahren für den Wiederaufbau benötigt werden. In Rom sprach Premierminister Denys Schmyhal von einer Billion US-Dollar in den kommenden 14 Jahren. 540 Milliarden davon sollen seiner Meinung nach von russischen Konten kommen, 460 Milliarden durch europäische Investitionen in der Ukraine. dsa
In Charkiw, derzweitgrößten Stadt der Ukraine, wird einem Ex-Vizebürgermeister die Veruntreuung von 5,4 Millionen Hrywnja (109 000 Euro) angelastet. Für Verteidigungsanlagen soll er einem Fabrikdirektor 30 Prozent über Marktpreis bezahlt haben. Montiert wurden die Anlagen nicht. Auch deshalb konnte die russische Armee in das Gebiet eindringen. Ähnlich wie im Fall von Sumy, wo Verteidigungsanlagen nicht existent sein sollen.
Die Liste ließe sich sehr lange fortsetzen und auf ziemlich jeden Bereich ausweiten, seien es Lebensmittel und Jacken für die Armee oder Teile für Rolltreppen der Kiewer Metro. Kaum eine Woche vergeht ohne neuen Skandal.
Fast jeden Tag ein neuer Korruptionsskandal
Die anhaltende und weit verbreitete Korruption sowie das Versagen der Behörden ist nicht nur ein peinliches Zeichen nach außen, sondern auch eine andauernde Gefahr für die ukrainische Gesellschaft und damit letztendlich auch für den Staat.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Socis bezeichneten im Juni 48,5 Prozent der Befragten die Korruption als größtes Problem für die Ukraine. Die andauernden massiven russischen Angriffe waren demnach mit 41 Prozent »lediglich« das zweitgrößte Problem.
Für Selenskyjs Regierung sind solche Ergebnisse ein Schlag ins Gesicht, offenbaren sie doch den massiven Vertrauensverlust in den Präsidenten, der sich zunehmend für unantastbar hält. Auch andere Umfragen dürften dem Präsidialbüro nicht gefallen. Auf die Frage des regierungsnahen Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS), in welche Richtung sich die Ukraine bewege, antworteten 41 Prozent der Teilnehmer: Autoritarismus. Schuld daran seien neben der eingeschränkten Meinungsfreiheit und der zunehmenden Machtkonzentration des Präsidenten vor allem die Korruption, so das KMIS.
Korruption für Ukrainer größere Gefahr als Bombardierungen
Auch das Auftreten der Regierung auf dem internationalen Parkett sehen die Ukrainer zunehmend kritisch. Gerade einmal jeder Dritte (36 Prozent) glaubt, dass man in Kiew »alles Erdenkliche für den Frieden unternehme«, geht aus einer Telefonbefragung der Soziologengruppe Rating von Anfang Juli hervor. Im Juni war es noch knapp jeder Zweite (48 Prozent).
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Die Hoffnung auf spürbare Ergebnisse bei einer zu erwartenden dritten Gesprächsrunde mit Russland schwindet. Und damit auch die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Anders als von der Regierung propagiert, glauben immer weniger Ukrainer an eine blühende Zukunft im europäischen Kreis. In einer fortlaufenden Erhebung des KMIS sagten 47 Prozent der Befragten, sie erwarteten, dass die Lage der Ukraine in zehn Jahren »trüb« ist, 43 Prozent glauben an eine Mitgliedschaft in der EU. Besorgniserregend ist vor allem der Trend: Im Dezember 2024 sahen noch 57 Prozent eine europäische Zukunft, ein Jahr zuvor waren es sogar 73 Prozent. Die Ukraine ist an einem Kipppunkt angelangt, glaubt der ehemalige Präsidentenberater Olexij Arestowytsch. Weitere Waffen aus den USA (und letztendlich auch Gelder aus Europa) könnten die Ukraine nicht retten, solange sie nicht gewillt sei, Staat und Gesellschaft zu reformieren – gemeint ist das nationalistische Gesellschaftsverständnis und der brutale Umgang mit den Menschen. So kommentierte Arestowytsch die KMIS-Umfrage auf seinem Telegramkanal.
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