Rekordstreben ohne Gründlichkeit

Diskussionen über die Rekrutierungspraxis und Einstellungskriterien der hessischen Polizei

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Weil ein junger Nachwuchspolizist in seiner Freizeit in eine tödliche Messerstecherei verwickelt war und vom Tatort flüchtete, hat in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden eine Diskussionen über die Rekrutierungspraxis und Einstellungskriterien der hessischen Polizei eingesetzt.

In der Nacht zum Sonntag waren in der Wiesbadener Innenstadt zwei Gruppen jungen Männern aneinandergeraten. Dabei wurde nach Polizeiberichten ein 19-Jähriger durch einen Messerstich ins Herz getötet, zwei Beteiligte wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Der bzw. die Täter konnten vom Tatort fliehen. Am Sonntag wurden erste Personen festgenommen. Dringend der Tat verdächtigt wird ein 24-Jähriger. Ihm wird Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.

Aufsehen erregt die Tatsache, dass ein 23-jähriger Polizeikommissaranwärter an dem Streit beteiligt war. Er soll dem Vernehmen nach zur Eskalation beigetragen haben. Der Mann war offenbar vom Tatort geflüchtet. Während sich die Nachricht von der Messerstecherei am Sonntag in elektronischen Medien rasch verbreitete und Polizeibeamte konzentriert fahndeten, hielt er sich zunächst bedeckt und nahm keinen Kontakt mit der zuständigen Polizeidienststelle auf. Er wurde erst am Sonntagabend vorläufig festgenommen.

Dieses offensichtliche Fehlverhalten eines angehenden Polizisten wirft viele Fragen auf. Der junge Mann war zum 1. Februar 2017 als Anwärter eingestellt worden. Er soll dem Vernehmen nach in früheren Jahren bei der Polizei als gewalttätig aufgefallen sein und bereits mehrere Strafverfahren und Verurteilungen nach Jugendstrafrecht hinter sich haben.

»Das Einstellungsverfahren bezüglich des in einem Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Wiesbaden beschuldigten 23-jährigen Polizeianwärters wird derzeit nochmals nachvollzogen und überprüft«, erklärte Sandra Bletz-Elsemüller, Sprecherin der Polizeiakademie Hessen (HPA), am Mittwoch auf nd-Anfrage. »Bis zum Abschluss dieser Überprüfung verrichtet der Anwärter keinen Dienst.« Ihm seien die Führung der Dienstgeschäfte und das Betreten der Polizeiakademie »bis auf Weiteres verboten«, so Bletz-Elsemüller.

Bei der HPA legt man Wert darauf, dass jeder Bewerber für den Polizeidienst auf eine mögliche strafrechtliche Vorgeschichte überprüft werde. »Ist der Bewerber gerichtlich bestraft, so ist eine Einstellung ausgeschlossen«, so Bletz-Elsemüller. Zudem prüfe man weitere polizeilich relevante Erkenntnisse und schließe Bewerber aus, »die aufgrund ihres Persönlichkeitsbilds als aggressiv oder gewalttätig gelten«. Ob ein Bewerber trotz polizeilicher Erkenntnisse ausnahmsweise doch zum Eignungsauswahlverfahren bzw. als Anwärter zugelassen werde, entscheide die HPA nach individueller Einzelfallprüfung, so die Sprecherin.

Erst am Sonntag hatten Hessens Innenminister Peter Beuth und Ministerpräsident Volker Bouffier (beide CDU) beim »Tag der Polizei« in Rüsselsheim demonstrativ 860 Nachwuchskräfte vereidigt und von einer »beispiellosen Einstellungsoffensive« und einem »Maßnahmenpaket in historischer Dimension« gesprochen.

Das Verhalten des 23-Jährigen wirft nun die Frage auf, ob im Streben nach Zahlenrekorden bei der Nachwuchsrekrutierung die Gründlichkeit gelitten hat und ungeeignete Bewerber zum Zuge gekommen sind. Innenstaatssekretär Werner Koch räumte auf Drängen der Oppositionsparteien vor dem Landtagsinnenausschuss am Mittwoch Fehler bei der Einstellungspraxis ein. »Nachdem jahrelang viel zu wenig Polizei eingestellt wurde, könnte mit der hastig begonnenen Ausbildungsoffensive nun auch völlig ungeeignetes Personal in den Polizeidienst gelangt sein«, mutmaßt der Abgeordnete Hermann Schaus (LINKE).

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