Zwischen Fremdheit und Faszination

Jürgen Lehmann schrieb eine Rezeptionsgeschichte russischer Literatur in Deutschland

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

In jedem Kapitel dieses Bandes kann man sich festlesen, ganz gleich, ob es sich um Rainer Maria Rilkes Brief-Dialog mit Marina Zwetajewa, Thomas Manns russische Lektüren und intertextuelle Bezüge zu russischen Texten im »Doktor Faustus« handelt, um Stefan Zweigs große »Meister«-Essays zu Dostojewski und Tolstoi, um Hermann Hesses bei Dostojewski gefundenen Begriff des »Magischen« im »Steppenwolf«, um Paul Celans Mandelstam-Übertragungen. Als jüngeres Beispiel wäre Volker Brauns »Übergangsgesellschaft« im Bezug zu Tschechows »Drei Schwestern« zu nennen.

Das Buch ist eine Fundgrube, Lese- und Verständnis-Hilfe nicht nur für Literaturfreunde, sondern auch für Wissenschaftler. Präzise, kenntnisreich, faktenreich und zudem brillant geschrieben, kann es als Standardwerk zu den russisch-deutschen, bzw. deutsch-russischen Literaturbeziehungen gelten. Denn der Autor kennt sich in beiden Literaturen genauestens aus.

In zehn Kapiteln entfaltet Jürgen Lehmann übersichtlich die jeweiligen geistes- bzw. kulturgeschichtlichen und damit literarischen Epochen von ersten Reisen und Lektüren altrussischer Literatur (das »Igorlied« steht nach Selbstaussagen von Gegenwartsautoren noch immer in vielen Bücherschränken) über die große russische Erzähl- und Dichtkunst des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Überstrahlt wird die deutsch-russische Literaturgeschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts von den Werken Dostojewskis und Tolstois mit ihrer tiefgründigen Themenvielfalt (Krieg, Töten, Sterben, Leiden, Verbrechen, Strafe, Sühne), orientiert an religiösen und psychologischen Fragestellungen seit Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud. So gut wie alle deutschsprachigen Autoren und Autorinnen von Rang - von Thomas Mann über Anna Seghers, Ingeborg Bachmann, Christa Wolf oder Heiner Müller bis hin zu Christoph Meckel - haben immer wieder die Bedeutung der großen russischen Erzähler für ihr Schreiben betont. Heinrich Bölls literarisches Werk ist ohne sie undenkbar. Nicht zufällig suchten und suchen Autoren in »Schwellensituationen« (Lehmann), also in Zeiten künstlerischer Verunsicherung, Orientierung bei den ihnen verwandten Dichtern. Ein bitteres und prägendes Kapitel ist das über die durch den Stalinismus »vergeudeten Dichter« (wie Isaac Babel oder Osip Mandelstam). Das wird die russische wie die deutsche Literatur noch lange nicht loslassen.

Dass die Rezeption russischer bzw. sowjetischer Literatur in der DDR und in den deutschsprachigen westlichen Ländern bis 1989, befördert durch Reisen und persönliche Begegnungen und Freundschaften, breiten Raum einnimmt und dabei weniger bekannte oder bewusst verdrängte russisch-sowjetische Literatur gewürdigt wird, ist ebenfalls der großen Kenntnis des Autors zu verdanken. Im Rahmen einer Gesamtdarstellung ist solches bisher einzigartig. Jürgen Lehmanns Konzeption verdeutlicht, dass das Bild der Deutschen von den Russen traditionell - teilweise noch heute - von zwei Faktoren geprägt war: Fremdheit und Faszination. Beides hat in der Wahrnehmung der Autoren oft zu sehr unterschiedlichen Urteilen geführt. So wurde beispielsweise Boris Pasternak in der westlichen Welt fast nur durch seinen »Doktor Schiwago« bekannt, während heute sein poetisches Werk zu entdecken ist.

Im letzten Kapitel »Tendenzen und Perspektiven nach 1989« weist Jürgen Lehmann darauf hin, dass das Gespräch »scheinbar getrennter« Literaturen wie der deutschen und der russischen sich heute einfügt in eine weltweit vernetzte »Universalpoesie«.

Jürgen Lehmann: Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller und Kritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. J. B. Metzler. 417 S., geb., 69,95 €.

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