Eine Attacke auf uns alle

Die Bahnanschläge haben die Gewaltfrage in der Linken wieder aufgeworfen. Doch das ergibt momentan wenig Sinn, meint Christian Klemm

  • Lesedauer: 3 Min.

Als vor einigen Jahren von militanten Autonomen beinahe täglich in Berlin Luxusautos angezündet wurden, stand ich auf dem Hof einer Waschanlage im Norden der Hauptstadt und kam beim Staubsaugen mit meinem Nebenan ins Gespräch. Nach einigen Minuten begann der Mann, der beruflich in einem Autohaus Fahrzeuge aufbereitete, sich fürchterlich über die Pkw-Brände aufzuregen. »Mit diesen Typen muss man kurzen Prozess machen!« und »Was fällt diesen Verrückten eigentlich ein?« waren Sätze, die so oder so ähnlich aus seinem Mund kamen. Vermutlich war der ein oder andere am Montag entsprechend gut auf die Anti-G20-Aktivisten zu sprechen, die in der Nacht zuvor Kabelbrände auf Strecken der Deutschen Bahn legten.

Es gibt mehrere Gründe, die gegen diese Aktion sprechen. Erstens: Mit den Bränden hat eine angeblich linksradikale Gruppe Bahnstrecken im gesamten Bundesgebiet zeitweise lahmgelegt. Eine harte Geduldsprobe nicht nur für Pendler, sondern auch für Eltern, die ihre Kinder aus Schule und Kita abholen mussten, für Menschen mit Vorstellungsgesprächen usw. Nur die wenigsten von ihnen werden sich über die Zugverspätungen und -ausfälle gefreut haben. Zweitens: Die Bahn ist ein Staatsunternehmen. Auch die Mehrheit der Eisenbahninfrastruktur ist in Staatsbesitz. Somit waren die Anschläge eine Attacke auf uns alle. Drittens: Die Motivation hinter dem Anschlag ist unklar. »Wir unterbrechen die alles umfassende wirtschaftliche Verwertung. Und damit die so stark verinnerlichte Entwertung von Leben«, heißt es in einem mutmaßlichen Bekennerschreiben. Man wolle in eines der »zentralen Nervensysteme des Kapitalismus« eingreifen, steht dort geschrieben. Die Bänder bei Mercedes-Benz sind normal weitergelaufen. Auf die Produktion anderer Unternehmen dürften die Kabelbrände auch keine Auswirkungen gehabt haben. Offenbar wurden die Folgen der Aktion von den Brandstiftern maßlos überschätzt.

Dass der Kapitalismus eine menschenfeindliche Ideologie in sich trägt, muss an dieser Stelle nicht betont werden. Wie aber die Überwindung der gegenwärtigen Verhältnisse erreicht werden kann, ist umstritten. Ein Teil der Linken will die Transformation zum Sozialismus auf parlamentarischem Weg erreichen. Dieses Vorhaben ist fast so alt wie die Arbeiterbewegung. Schon Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht haben sich ausführlich mit ihr auseinandergesetzt - und ihre Schlüsse gezogen.

Seit geraumer Zeit wird über Chancen und Risiken rot-rot-grüner Bündnisse auf Bundesebene diskutiert. Bundestagsabgeordnete von SPD, Linkspartei und Grünen kommen zusammen, um parlamentarische Mehrheiten links der Mitte auszuloten. Adjektive wie »solidarisch«, »emanzipatorisch« und »fortschrittlich« werden dort zur Umschreibung ihrer Politik benutzt. Sicherlich würde Rot-Rot-Grün den Menschen guttun: durch mehr öffentliche Beschäftigung, einen höheren Mindestlohn, eine gerechtere Asylpolitik, ein anderes Bildungssystem, die Gleichstellung von Homosexuellen usw. Doch ob eine solche Koalition eine Wirtschaftsordnung jenseits kapitalistischer Ausbeutung erreichen könnte, darf bezweifelt werden. Konzernbosse und Großaktionäre werden das Feld nicht freiwillig räumen - auch auf Geheiß einer linken Mehrheit im Bundestag nicht. Für die Mächtigen steht zu viel auf dem Spiel: Die Bundesrepublik ist eines der weit entwickeltsten Industrieländer der Welt - ein Bruch mit dem Kapitalismus könnte einen Dominoeffekt haben. Wer fiele als nächstes der Linken zu? Frankreich? Österreich? Belgien? Ganz Europa?

Wer den Kapitalismus in Deutschland überwinden will, der kommt mit parlamentarischen Mitteln allein nicht ans Ziel. Doch bis es soweit ist, müsste einem Großteil der Bevölkerung klar werden, dass Hartz IV, Niedriglohn und Altersarmut unmittelbar mit den Sparbüchern der Millionäre zu tun haben. Erst wenn sich das auch an der Waschstraße herumgesprochen hat, kann die Machtfrage gestellt werden. Vorher ergibt es wenig Sinn.

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