- Kommentare
- Debatte um Wiedereinführung der Wehrpflicht
Kein Wehrpflichtiger hält die Atomraketen auf
Christian Klemm hält die Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht für unnötig
»Die ›Anforderungen‹ an unser Bündnis werden aufgrund der Bedrohung aus Russland immer höher.« So oder so ähnlich formulieren es die Militärstrategen im Brüsseler Nato-Hauptquatier seit dem Einmarsch Moskaus in die Ukraine. Seitdem wird in Berlin aufgerüstet, was das Zeug hält. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth bekräftigte erst am Donnerstag die Haltung des Weißen Hauses, dass alle Nato-Mitglieder fünf Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in das Militär investieren müssten.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) befindet sich schon jetzt in einer komfortablen Lage; schließlich kann er so viel Geld ausgeben, wie keiner seiner Amtskollegen vor ihm. Und doch steckt der Niedersachse in der Klemme. Denn unter seinen Vorgängern wurde die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgerüstet. Die klassische Verteidigungsarmee war seit mindestens Ende der 1990er Jahre nicht mehr gefragt. Erst der Kriegseinsatz auf dem Balkan, einige Jahre später dann der Einmarsch in Afghanistan: Mit der ollen Truppe aus dem Kalten Krieg war das nicht zu machen. Die Aussetzung der Wehrpflicht unter Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) war demnach nur folgerichtig.
Doch jetzt weiß Pistorius nicht, wo er die Soldaten und Soldatinnen herholen soll, um das ganze Kriegsgerät zu bedienen. Zurzeit hat die Truppe rund 181 000 Männer und Frauen an den Waffen. »Wir gehen davon aus – das ist aber auch nur eine Daumengröße, um es klar zu sagen –, dass wir in den stehenden Streitkräften rund 50 000 bis 60 000 Soldatinnen und Soldaten mehr brauchen als heute«, so der Minister in dieser Woche. Eine Truppenstärke von rund 240 000 Männern und Frauen ist aber mit dem kürzlich modifizierten Wehrdienst – alle wehrfähigen Männer ab 18 Jahren müssen einen Fragebogen zu ihrer Dienstbereitschaft und -fähigkeit ausfüllen, können aber nicht verpflichtend eingezogen werden – nicht zu erreichen. Deshalb rät der Chef des Bundeswehrverbandes André Wüstner der Bundesregierung, schon jetzt die Weichen für eine mögliche Wiedereinführung der Dienstpflicht zu stellen. Es gibt sogar Stimmen, die sich für eine Wehrpflicht für Frauen starkmachen. Alles im Interesse des bundesdeutschen Vaterlandes, versteht sich.
Doch Deutschland ist nicht bedroht. Zumindest nicht von Russland. Pistorius und Kollegen können noch so oft von einer angeblichen Bedrohungslage reden; wahr wird diese Aussage davon trotzdem nicht. Denn wenn auch nur eine russische Drohne ein Ziel in der Bundesrepublik angreifen würde, löste das den Nato-Bündnisfall aus. Das westliche Militärbündnis aber ist den Streitkräften Moskaus in fast allen Belangen überlegen. Das weiß auch Russlands Präsident Wladimir Putin. Ein Krieg mit der Nato würde das Ende seiner Regierung bedeuten. Es wäre politischer Selbstmord.
Zum Thema: Högl unterstützt Grünen-Idee eines »Freiheitsdienstes« – Wehrbeauftragte des Bundestags wirbt für Dienstpflicht und weniger Freiwilligkeit beim Wehrdienst
Und genau deshalb ist die Debatte über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht Unsinn. Deutschland braucht keine Riesenarmee zur eigenen Verteidigung. Was es dagegen braucht, ist Entspannung und Vertrauen im Verhältnis zu Russland. Missgunst zwischen Ost und West kann zu Verunsicherung und Nervosität führen. Nicht ausgeschlossen, dass einer der Militärs dann überreagiert. Und wenn erst die Atomraketen fliegen, dann helfen auch 60 000 Soldaten und Soldatinnen mehr nicht. Auch die verbrennen dann in wenigen Sekunden.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.