Wellen im Bewusstsein

Sonntag ist UNO-Welttag des Seefahrers

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Das gesetzte Segel. Der Wind, der hineinfährt. Dazu ein kräftig hinausdrängendes Herz. Die Seefahrt. Man lese Johann Gottfried Herders Schiffsreise-Buch von 1769, eine Vorwegnahme von Nietzsches »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Dass man diese Fortbewegungsart auf dem großen Wasser beizeiten mit dem Attribut des Christlichen versah, offenbart noch heute die Wesensart einer abenteuerlichen Intuition, die zur imperialen Industrie wurde: Das Wasser steht für den Kampf - zwischen dem Sturm der menschlichen Leidenschaft, das Maßlose zu bezwingen, und den Stürmen der Natur, diesen Eifer zu stoppen. Da war einerseits also das Demut-tiefe Eingeständnis, auf dem Meer einem Schicksal ausgesetzt zu sein, das von höherer Hand diktiert wird, aber andererseits war da der arrogante missionarische Impuls, der aus freudiger Entdeckung mehr und mehr unbarmherzige Eroberungen machte. Mit der Kolumbusfahrt und ihrer weltgeschichtlichen Sprengwirkung hatte eine kalte Poesie des Übergriffs und der Landnahme begonnen.

Der 25. Juni ist der UNO-Welttag des Seefahrers. Das moderne traurige Fazit des Mythos vom Matrosen: Am Ende aller Ausfahrten steht die Invasion der Traumschiffe. Auf den Decks reihen sich die Liegestühle - für Leute, die pauschal dafür bezahlt haben, mit ihrem Dahindösen jeden fernen Horizont zu entwürdigen. Paradox: Die Gier nach Erweiterung führte zur Verzwergung der Reise zum Transport, sie hat alle Ufer einander näher gebracht. Wozu überhaupt noch hinaus? Was einmal fern war, zeigt sich jetzt mühelos auf Monitoren. Auf denen der Planet wieder zur Scheibe wurde. Und alles Wissen ist eine Einladung zur Großspurigkeit, die am Display sogar alle Katastrophen kinderleicht durchspielen kann. »Nur nicht die Tränen«, resümierte Botho Strauß.

Doch ist das romantische Weltempfinden nicht wirklich zu tilgen: Es begrüßt den Sonnenaufgang am Meereshorizont, und zwar ohne die abwinkende Vorausahnung all des erfahrungssicher Bösen und Schlechten, das die Sonne auch heute wieder an den Tag bringen wird. Wir nehmen Kurs auf Inseln des Gelingens, auch wenn wir wissen, dass sie nur immer ein Traumziel sind. Wo der Mensch seine Ohnmacht spürt, dort geht und schwimmt er los, dort geht er wie wild auf seine eigenen Zweifel los, dort besteigt er Berge und Boote, höhnt den Schwerkräften, reißt den Schmerz an sich, als sei allein der schon die ersehnte Beute. Der RAF-Häftling Christian Klar, das hat Interviewer Günter Gaus berichtet, habe eines seiner Begnadigungsgesuche auf eine Ansichtskarte mit einem Segelschiff geschrieben.

Heiner Müller schrieb, wenn die sinnenttäuschten Menschen nicht mehr kämpfen werden, kämpfen die Landschaften. Auch die Ozeane. Sie werfen uns tote Flüchtlinge vor die sandigen Füße. Weil wir als Lebende nicht mehr wirklich kämpfen. Für das, was man das wirkliche Leben nennen könnte. Jene Sehnsucht, die ins Abenteuer treibt, hinterlässt stets auch Getriebene, die sich am Ende wünschen, nie aufgebrochen zu sein. Als schlüge das Meer, das man so eroberungsfähig befährt, nur immerfort Wellen im Bewusstsein, die den Schädel sprengen. Der Tag des Seefahrers ist ein Anlass, an Travens »Totenschiff« zu denken, noch bedrängender: an die Romane von Joseph Conrad. Jeder Vorstoß in die schier unermessliche äußere Welt ist nur ein Schritt weiter in die Zone schrecklicher Einsamkeit, wo der menschliche Geist seine unglückliche Liebe zum Wahnwitz gesteht.

So funkelt das Meer oder dunkelt sich ein. Für die ganz einfache Wahrheit, was das sei, Liebe zur Natur: Nur wenn einem nichts zusteht, kann man lange davon zehren. Wehe uns, dass wir in die misslichste aller Lagen geraten: Hohe Wellen einer beleidigten, aufgewühlten Welt kommen auf uns zu, und auf dem Handy, bevor es nass wird, müssen wir dringlich nach einer Arche telefonieren.

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