Eine zweigeteilte Existenz

Olaf Scholz, ein nüchterner Machtpolitiker, kämpft gegen sein steifes Image an

  • Folke Havekost
  • Lesedauer: 4 Min.

Für Hamburgs Bürgermeister ist es ein kosmopolitisches Gipfeltreffen: Olaf Scholz sitzt im Ledersessel auf der Bühne. Grauer Anzug, weißes Hemd, keine Krawatte. Stilvoll, aber nicht steif soll es sein. Die Blicke liegen auf ihm. Und auf Teju Cole, der neben ihm sitzt und mit ihm diskutieren wird. Scholz hat den Autor aus New York gepriesen, wo er nur konnte, und das Buch »Open City« als roten Faden in seine Grundsatzrede »Hamburg, Europa und die Grenzen« von 2014 eingeflochten. Das Treffen im Herbst 2016 findet in der Außenstelle des Thalia-Theaters in der Gaußstraße statt. In Hamburg-Altona, dem Wohnort von Scholz, den er ab 1998 dreizehn Jahre lang im Bundestag vertreten hat. Heimspiel für den Bürgermeister. Als beide auf der Bühne über Wahlen, Teilhabe und den Umgang mit Flüchtlingen sprechen, nutzt Scholz mehrfach die Gelegenheit, die Weltoffenheit seiner Hansestadt zu preisen. An einem Punkt so sehr, dass Cole interveniert: Er möge doch bitte als Mensch reden, nicht als Politiker.

Da ist sie wieder, die Zweiteilung. Mag sein Umfeld auch davon berichten, dass man es dem Bürgermeister anmerkt, wenn ihn etwas bewegt. Dass er lacht, wenn er sich freut, und dass er, etwa durch den Austausch mit Künstlern, gern über den eigenen Tellerrand hinausblickt. Sein Ruf lässt ihn nur schwer los: Bevor Scholz für die SPD Wahlen gewann, galt er als Apparatschik, als kühler Stratege, als gutorganisierte Langeweile in Person. »Scholzomat« taufte ihn »Die Zeit« vor anderthalb Jahrzehnten, als er als SPD-Generalsekretär die Agenda 2010 in spröden Worten verteidigte. Der 59-Jährige versucht, den persönlichen und den politischen Scholz unter dem Rubrum »leidenschaftlicher Realismus« zu vereinen. Das gelingt in besseren Tagen mehr und manchmal weniger.

Am Mittwoch ist kein besonders guter Tag. Scholz steht vor der Hamburgischen Bürgerschaft und rechtfertigt sich für die gewaltsamen Zwischenfälle beim G20-Gipfel. Dunkler Anzug, weißes Hemd, hellrote Krawatte mit Punkten. Staatstragend, aber nicht steif soll es sein. Um sein politisches Überleben muss er nicht kämpfen; es ist weit und breit keiner da, der ihn gefährden kann.

Scholz redet 35 Minuten, den Blick aufs Manuskript gerichtet. Seine Stimme stockt manchmal, bleibt aber nüchtern. Er entschuldigt sich bei den Hamburgern und zählt seine Besuche im Polizeipräsidium und bei Betroffenen auf, um das Bild vom Freitagabend zu verdrängen, als der Bürgermeister in der Elbphilharmonie saß, während das Schanzenviertel aus den Fugen geriet. Gleich zweimal nennt er die eingesetzten Polizisten »heldenhaft«. Auf die restriktive Handhabung von Grundrechten durch eine politisch freischwebende Polizeiführung während der Gipfeltage geht er nicht ein.

Dann blickt er von seinem Manuskript auf nach links und folgt einem Muster: In Krisenzeiten bloß nicht von rechts angreifbar sein. Neben dem »kriminellen Mob« treffe eine »Mitverantwortung auch jene, die, aus welchen Gründen auch immer, solche Taten verharmlosen oder sogar als politisches Handeln rechtfertigen«. Die Rote Flora ist gemeint. Für Linksextremisten dürfe es »keine Handbreit Spielraum« geben, verlangt Scholz, ohne auf die Forderung der CDU nach einer Räumung des autonomen Kulturzentrums einzugehen.

Scholz kennt das Muster, sich nach rechts abzusichern. 2001 kehrte er als Bundestagsabgeordneter aus Berlin nach Hamburg zurück und wurde Innensenator, weil die SPD fürchtete, ohne einen starken Mann die anstehende »Schill-Wahl« zu verlieren. Der neue Senator ordnete an, mutmaßlichen Drogenhändlern Brechmittel zu verabreichen. »Ich bin liberal, aber nicht doof«, erklärte der einstige Jungsozialist vom linken Flügel seinen Law&Order-Kurs. Die SPD verlor trotzdem die Macht, ein Vierteljahr später starb ein Nigerianer nach einem Brechmitteleinsatz - für seine Gegner eine mittelbare Folge aus Scholz’ Wahlkampf. Die linke Szene hat einen Platz nach Achidi John benannt. Es ist der Platz vor der Roten Flora am Schulterblatt, auf dem am G20-Wochenende die schwersten Auseinandersetzungen stattfanden.

»Die Hamburger erwarten von ihren Bürgermeistern, dass sie in der bundespolitischen Debatte eine Rolle spielen«, hat Scholz seine Rolle in besseren Tagen definiert. Doch diese Debatte zum Ausklang seiner Gastgeberrolle für die Weltherrschaften hat er nicht erwartet. Er ist aus der Rolle gefallen. Denn Scholz ist Bürgermeister, damit alles normal läuft in einer Stadt, die nicht auffallen will, das aber möglichst deutlich.

In der nüchternen Kaufmannsmetropole ist Scholz mit seinem dezenten Präsidialstil zum stillen Star geworden, spätere Kanzlerkandidatur nicht ausgeschlossen. Vorbei schien es mit dem Auf und Ab der »Nullerjahre«, als der gelernte Anwalt für Arbeitsrecht als Generalsekretär fast von der eigenen Partei abgewählt wurde. In Hamburg hauchte Scholz der von Intrigen gebeutelten SPD neues Leben ein, als er 2009 den Landesvorsitz übernahm. »Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt«, lautete sein Leitsatz. Für die absolute Mehrheit 2011 erhielt er zum Dank die Spitznamen »kleiner König« und »geliebter Führer«. Nach sechs Jahren im Amt trifft den einstigen Krisenmanager nun die erste ernsthafte Krise. »Ich bin tief bewegt von unserer Stadt, weil sie sich auch nach diesem Sturm schnell wieder aufrichtet«, sagt Scholz am Mittwoch vor der Bürgerschaft. Das soll auch für den Redner gelten.

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