Wo bitte geht’s zu deinem Spind?

48 000 Lichtbilder und die dazugehörigen Personalien sind in der Vorzeigedatei der Berliner Polizei gespeichert

13 Jahre ist der Schüler alt. Der Unterricht war vorbei und er fuhr mit der S-Bahn nach Hause. Fast am Ziel, nahm er noch für eine Station die Straßenbahn. Weil er ja nur eine Station fahren wollte, blieb er gleich an der Tür stehen und zückte sein Mobiltelefon, um die Nachrichten durchzusehen. Da ist es passiert. In dem kurzen Moment vor der Abfahrt, als sich die Tür bereits automatisch schloss, entriss ihm ein unbekannter älterer Jugendlicher das neu für 350 Euro gekaufte Telefon, zwängte sich noch schnell durch die Tür und rannte weg. Das ist eine Masche von Dieben, die auch in S- und U-Bahnen vorkommt.

Die Eltern haben das Delikt angezeigt, die Polizei hat den Fall aufgenommen - und nun sitzt der 13-Jährige mit seinem Vater in einem Warteraum in der zweiten Etage des Landeskriminalamts am Tempelhofer Damm 12. Hier befindet sich die Kriminaltechnik, ganz konkret gleich nebenan die Lichtbildvorzeigedatei. Opfer von Straftaten oder auch Zeugen werden hergebeten, um nachzusehen, ob sie den Täter auf Fotos bereits registrierter Straftäter wiedererkennen. Ein Mädchen kommt gerade heraus und seufzt enttäuscht: »Er war nicht dabei.«

Wenig später wird der 13-jährige Junge hereingerufen. Er nimmt an einem Tisch Platz, auf dem zwei Computerbildschirme stehen. Vor einen davon setzt sich der Junge, am Bildschirm gegenüber sitzt ein Beamter, der nacheinander 122 Bilder zeigt. Er hat sie nach der Täterbeschreibung des Jungen ausgewählt. Der Junge soll nun sagen, ob einer der gezeigten Jugendlichen der Täter ist oder ihm zumindest ähnlich sieht.

Die Wiedererkennungsrate bei der Lichtbildvorzeigedatei liegt bei etwa drei Prozent, sagt Polizeisprecher Thomas Neuendorf. Wie oft ein Täter nach dem Wiedererkennen tatsächlich dingfest gemacht werden kann, vermag er nicht zu sagen. »Leider gibt es dazu keine statistische Erhebung.« Rund 48 000 erkennungsdienstliche Datensätze sind im Bestand. »Im Durchschnitt nehmen circa 11 500 Geschädigte und Zeugen pro Jahr Einsicht«, sagt Neuendorf.

Die Anfänge der Lichtbildkartei reichen zurück bis zu Alphonse Bertillon (1853-1914), einem Kriminalisten, der als Schreiber bei der Pariser Polizei anfing. Dort ersann Bertillon ein Verfahren zur Körpermessung und katalogisierte die Daten mit einem Bild. So entstand ein Verbrecheralbum. Bei der Berliner Polizei ist die Verbrecherdatei seit September 1999 digitalisiert.

Inzwischen ist ein junger Flüchtling aus Afghanistan in den Warteraum gekommen. Er war in einem Fitnessstudio beraubt worden. Nach dem Training ging er gerade mit Handtuch und Seife zur Dusche, als ihn ein fremder Mann ansprach und fragte, wo er seinen Spind habe. Im Nachhinein fragt sich der Afghane, warum es ihm nicht gleich verdächtig erschienen war, wozu der Fremde dies überhaupt wissen wollte. Er ärgert sich, dass er - von der Situation überrumpelt - seine Schranknummer verraten hat. Nachdem er frisch geduscht hinkam, war der Schrank aufgebrochen und ausgeräumt. Zwei Mobiltelefone und die Brieftasche mit Geld, elektronischer Gesundheitskarte und Ausweispapieren, dazu sogar die Kleidung - alles gestohlen. Der junge Mann ist fix und fertig. Sich bei der Ausländerbehörde neue Dokumente zu besorgen, ist sehr aufwendig. »Zwei Wochen sind vergangen, und ich habe immer noch keinen neuen Ausweis«, klagt der Mann. »Hoffentlich haben sie den Täter hier in der Kartei«, sagt er noch, bevor er aus dem Warteraum hereingerufen wird.

Der 13-Jährige, dem das Telefon frech vor den Augen anderer Fahrgäste in der Straßenbahn entwendet wurde, ist fertig. Die Durchsicht der 122 Fotos hat nur ein paar Minuten gedauert. Bei einem Foto überlegte der 13-Jährige kurz, neigte dann aber zu der Ansicht, dass es doch nicht derjenige sei, der ihm das Mobiltelefon entriss. Die Ermittlungen werden also wahrscheinlich im Sande verlaufen. Doch etwas gelernt hat der Junge. Die Polizisten haben ihm geraten, mit einem gezückten Handy in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht an der Tür stehen zu bleiben, sondern das Gerät erst hervorzuholen, wenn er sich möglichst weit von den Türen entfernt hat.

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