Plastiktütenmenschen

Eine kleine Reise durch die Polyester- und Popgeschichte

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 7 Min.

We’re living in the Plastic Age«, sangen The Buggles 1981. Dabei war das »Plastic Age« 1981 schon längst Realität und bereits im Niedergang begriffen, zumindest hatte es sich durch die Ölkrise 1973 und die Ökobewegung enorm ausdifferenziert. Seit dem Zweiten Weltkrieg war Kunststoff zu einem umkämpften Material geworden, das ebenso mit utopischem Gehalt angefüllt war, wie es auch Symbol für eine dystopische Zukunfts- und Gegenwartsbeschreibung, für Kapitalis᠆mus-, Gesellschafts- und Amerikakritik wurde, für Künstlichkeit und Kitsch.

In »Mythen des Alltags« schrieb Roland Barthes 1956 über die »magische Materie« Kunststoff: »Die Mode des Plastiks zeugt von einer Entwicklung im Mythos der Imitationen. Bisher gehörte sie zu einer Welt des Scheinens, nicht des Gebrauchs. Die Imitation nimmt sich vor, mit geringeren Kosten die edelsten Substanzen zu reproduzieren, den Edelstein, die Seide, die Feder, den Pelz, das Silber, den ganzen luxuriösen Glanz der Welt. Das Plastik verzichtet darauf, es ist eine Haushaltssubstanz. Es ist die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist.«

Gerade aufgrund dieser Alltäglichkeit blieb das Plastik suspekt, Werbekampagnen von Kunststoffherstellern dieser Zeit zeigen das Bemühen, der Bevölkerung die Ängste vor der Hexerei der Chemiker zu nehmen. Dieses Unbehagen am Plastik findet sich in Spuren bis in die Gegenwart, allerdings in einer transformierten Form: als Angst vor der Plastikgesellschaft, die damals von Adorno und Horkheimer noch »Kulturindustrie« genannt wurde, um damit jene standardisierte Kultur zu beschreiben, die standardisierte Menschen nach sich zieht. Jene »Plastic People«, 1967 von Frank Zappa in die Popkultur eingeführt, die sich gedankenlos in die künstlichen Warenparadiese einfügen, in denen der Konsument zu einem ebenso anonymen und identitätslosen Artikel wie das Plastikprodukt selbst wird. Angepasst und entfremdet führt er ein synthetisches Plastikleben, die Werbung verspricht ihm die Befriedigung seiner Plastikbedürfnisse.

Fremdgesteuert sind auch die Plastic People in Sly & The Family Stones »Plastic Jim« 1968: »All the plastic people / What do they all come for?«, fragt sich Sly Stone. »Plastic people with plastic minds are on their way to plastic homes«, ergänzt Gil Scott-Heron 1971 im Song »Lady Day and John Coltrane«. Und auch der Krautrock in Gestalt von Birth Control sieht sich umgeben von Plastikmenschen: »Driving in a plastic seated omnibus / Plastic people’s parade’s moving / Slowly to the void, to the void.«

Das Bild des austauschbar gewordenen und sich freudig in die Warenwelt einfügenden Plastikmenschen zieht sich bis in die Gegenwart durch die Popgeschichte: Die Young Marble Giants sangen in »Include Me Out« vom »Plastic Home«, in dem man vor Langeweile eingeht, Public Enemy sprachen in »Plastic Nation« vom Körper, der sich ebenfalls dem Diktat der Normierung zu unterwerfen hat, und L7 beschrieben 1994 in »The Bomb« die »Plastic people with their plastic lives«.

Im gleichen Jahr wie Zappa beschrieb Rolf Dieter Brinkmann in seinem Gedicht »Plastik« ebenfalls die Verwandlung eines Menschen vom lebendigen Subjekt - einer Frau, die vor ihm läuft - in ein lebloses Objekt: »Wie / ein Ding / und mehr, bis sie / endgültig / verschwindet.« Die Plastikwelt blieb bis zu seinem frühen Tod 1975 Thema. Im posthum erschienenen Gedichtband »Westwärts 1 & 2« hat Brinkmann sich ebenfalls der Plastikmenschen in der »ramponierten Schaubude der Gegenwart« angenommen: »Lange, graue Warteräume sind die Tage, und die ausgeräuberten Träume setzen sich als elektrisch ausgeleuchtete Supermärkte fort«, schreibt er da über die ihn umgebende Gesellschaft.

Wenige Jahre später liefen im Punk die symbolische und die materielle Ebene von Plastik zusammen. Auch hier blieb Plastik ein Symbol für die Abgründe des Kapitalismus, der Warenförmigkeit des Menschen, aber anders als bei Zappa waren es nicht mehr die Plastikmenschen sondern das Material selbst in Form von Plastiktüten oder Plastikeimern, das besungen wurde. Etwa 1978 bei den X-Ray Spex, deren Sängerin Poly Styrene sich nach einem 1931 von der IG-Farben entwickelten Kunststoff benannt hat, im Song »Plastic Bag«: »My mind is like a plastic bag / That corresponds to all those ads«. Und die Deutschpunkband Razzia benutzte 1986 im Song »Rotes Plastik« das Bild eines Plastikeimers, um die Orientierungslosigkeit in der Masse und die zermürbenden Erwartungen der Gesellschaft an das Individuum zu beschreiben.

Diese Linie von den Plastic People Frank Zappas zu den Plastiktütenmenschen bei X-Ray Spex hatte auch eine Gegenerzählung, in der Plastik mit utopischem Gehalt aufgeladen war, der über die Konsumwelt der Gegenwart hinauswies. Schon in der Überführung des Zappa-Songs in den Ostblock der späten 60er Jahre ist eine neue Dimension geöffnet worden: Nicht mehr die Plastic People standen im Mittelpunkt, sondern die Plastic People of the Universe, man öffnete sich gegenüber dem Weltall, transzendierte das Dasein als Plastikmensch in ein utopisches Bild, das eher Sun Ras Utopie des Afrofuturismus als der Dystopie Frank Zappas ähnelte. Die Prager Band gleichen Namens, die Aufgrund ihrer Verbundenheit mit der amerikanischen Popkultur nach dem Ende des Prager Frühlings massive Probleme mit den staatlichen Repressionsorganen bekam, ist nur ein Beispiel einer solchen Öffnung von Plastik hin zur Utopie.

»Die Hierarchie der Substanzen ist zerstört, eine einzige ersetzt sie alle: Die ganze Welt kann plastifiziert werden, und sogar das Lebendige selbst, denn, wie es scheint, beginnt man schon Aorten aus Plastik herzustellen«, schrieb Barthes in den Fünfzigern, als der Comic-Charakter Plasticman, durch dessen Adern Plastikblut floss, Schurken zur Strecke brachte und Tupperware die Küchen eroberte. Während Plastik zu einem selbstverständlichen Teil des Alltags wurde, sind auch die ersten utopischen, mit Kunststoff verknüpften Modelle der Zukunft entstanden.

Ab 1957 konnte man in Disneyland das Monsanto House of the Future besichtigen, ein Haus, das so aussah, wie man sich damals die Zukunft des Jahres 1986 vorstellte und das sich vor allem durch eines auszeichnete: die mit dem Plastik verbundene Flexibilität. Auch Architekturexperimente wie das finnische Futuro waren erst mit der Etablierung von Plastik als Alltagsmaterial möglich geworden. Das aus mit Glasfiber versetztem Polyester hergestellte Haus war leicht zu transportieren, um die mit dem Zeitgeist der Sechziger verbundene neue Mobilität zu ermöglichen. Bevor 1973 die Ölkrise den Preis von Plastik in die Höhe getrieben und die im Laufe der 70er aufkommende Umweltbewegung die problematischen Seiten von Plastik in den Mittelpunkt gestellt hat, hatte Kunststoff ein emanzipatorisches Potenzial, war Trägerstoff diverser Utopien, Mittel für ein neues Zusammenleben und eine neue Gesellschaft.

Dieses Science-Fiction-Element von Plastik hat auch auf die Literatur dieser Zeit zurückgewirkt, was den amerikanischen Literaturkritiker Gore Vidal zum Essay »American Plastics« inspiriert hat. Darin kritisiert er vor allem Thomas Pynchons 1973 erschienenen Roman »Die Enden der Parabel« als künstlich und lebensfern - eine Kritik, der sich auch das Plastik immer wieder ausgesetzt sah. Und in der Tat erzählt Pynchon in dem Roman intensiv vom Plastik, lässt sämtliche mit dem Kunststoff verbundene Diskurse des 20. Jahrhunderts in die Geschichte um den amerikanischen Leutnant Tyrone Slothrop einfließen, der anscheinend eine seltsame Eigenschaft besitzt, denn in sämtliche Häuser seiner Liebesaffären im London des Jahres 1944 schlagen V2-Raketen der Nazis ein. Der obskuren Verbindung zwischen seiner Sexualität und der Wunderwaffe der Nazis versucht er im Roman auf die Spur zu kommen. Als Ursache stellt sich eine Konditionierung Slothrops heraus, die er als Kind durch den Erfinder des mysteriösen Plastiks Imipolex G erfahren hat, den IG-Farben-Mitarbeiter Lazslo Jamf. Imipolex G hat erotische Qualitäten, es ist das erste Plastik, das »im eigentlichen Sinn de Wortes erektil ist«. Die deutsche Schauspielerin Greta Erdmann beschreibt im Roman gar die orgiastischen Qualitäten des Plastiks, wenn es ihre Haut berührt. Pynchon zeigt im Roman vor dem Hintergrund der letzten Kriegstage und der engen Verflechtung der IG Farben mit dem Nationalsozialismus zwei unterschiedliche Kämpfe von Plastikmenschen gegen ihr Schicksal.

Greta Erdmann genießt es, dominiert und kontrolliert zu werden - in sexueller wie auch politischer Hinsicht. Sie geht voll in den Strukturen des NS auf, und gerade das erotische Imipolex lässt sie ihre Persönlichkeit vollends aufgeben und vergessen. Während des »Plastikorgasmus« denkt sie: »Ich hielt nichts zurück. War dies also die Unterwerfung - all dies fallen zu lassen?« Sie sehnt sich danach, in jeder Hinsicht zum Plastikmenschen zu werden. Im Gegensatz dazu versucht Tyrone Slothrop, sich vom Plastikmenschendasein und von der Konditionierung durch den wahnsinnigen Chemiker Lazslo Jamf zu befreien. Der Roman beschreibt auf über tausend Seiten den Kampf Slothrops dagegen, fremdgesteuert zu sein und nicht über die eigene Sexualität verfügen zu können. Und er gewinnt seinen Kampf, wenn er sich auch dafür buchstäblich auflösen muss, eine Eigenschaft, die Plastik in der Realität nicht besitzt. Slothrop aber verschwindet, zersetzt sich, geht dem Roman verloren. Und so bietet »Die Enden der Parabel«, das die Materialität von Plastik in allen Facetten beleuchtet und ihm sogar eine erotische Komponente einschreibt, auch dem Plastikmenschen einen Weg heraus: irgendwohin ins Nichts, zu den Plastic People of the Universe.

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