Kartelle, Konkurrenz und Planung

Über einige Grundwidersprüche im gegenwärtigen Wirtschaftssystem

  • Christian Lotz
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit Tagen diskutieren wir die neuesten Entwicklungen in der Autoindustrie. Vielfach wird »Foul« gerufen. Das »Kartell der Autobauer«, so hören wir, führe zu einer Krise der deutschen Autowirtschaft und basiere auf »schäbigen Absprachen« und »kriminellen Machenschaften«. Bei all dieser Aufregung wird aber selten die Frage gestellt, warum es ein Vorteil sein kann, sich als Marktteilnehmer abzusprechen, und warum Kartelle im Kapitalismus überhaupt entstehen.

Flüstern uns die Standardtheorien in der Wirtschaftswissenschaft und deren medial präsente Vertreter nicht seit Jahrzehnten ins Ohr, dass der Konkurrenzdruck und die privatwirtschaftliche Struktur kapitalistischen Märkten solches eigentlich gar nicht möglich machen sollten? Ist es nicht so, dass alle Marktteilnehmer aus rationalen Interessen heraus sich einen Vorteil nur erarbeiten können, wenn sie gegen alle anderen sind? Warum gibt es dann Absprachen? Kartelle generell, und natürlich auch die Absprachen der deutschen Automobilindustrie, sollten wir als Anzeichen von tieferen Widersprüchen verstehen, die unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem ausmachen. Dann können wir sie besser einordnen und analysieren. Schauen wir uns einige dieser Widersprüche genauer an.

Ist der Markt rational?

Die kapitalistische Konkurrenz ist von Anfang an nicht wirklich (rationale) Konkurrenz: Dafür nämlich müssten alle Produzenten und Konsumenten unter gleichen Bedingungen operieren. Ein rationaler Markt wäre ein Markt, auf dem es auf der Produktionsseite keine ungleichen Zugangsbedingungen und auf der Konsumentenseite keine Intransparenz gäbe. Intransparenz bedeutet, dass die Konsumenten nicht die »besten« und damit »rationale« Entscheidungen treffen können. Nun ist jedem sofort klar: Nicht jeder kann Märkte als rationaler Produzent oder Konsument betreten. Beispielsweise kann heute keine neue Firma mehr den Automarkt betreten, da die Investitionen viel zu groß wären, um eine Konkurrenz zu Volkswagen oder Toyota aufzubauen. Es fände sich keine Bank, die das Risiko abdeckt. Daher können sich die großen Fische nur gegenseitig in einer fortschreitenden Konzentrationsbewegung vernichten.

Zudem: Unterschiedliche Machtzugänge, regionale und nationale Strukturen, Vorteilsbeschaffungen und politische Verbindungen, wie auch Reichtumsunterschiede auf der Seite der Konsumenten, machen das System völlig intransparent. Darüber hinaus weiß kein Konsument, was er wirklich kauft. Wer versteht schon den neuesten Verbrennungsmotor? Oder wer weiß wirklich, was der Unterschied zwischen dem neuesten Intel- und AMD-Computerprozessor ist? So kaufen wir keine Produktinhalte, sondern Marken.

Seien wir ehrlich: Die meisten unserer Marktentscheidungen basieren auf Versprechen und nicht auf Wissen. Entscheidungen, die auf Versprechen beruhen, sind aber im strikten wirtschaftswissenschaftlichen Sinne nicht rational. Der Markt ist daher von Beginn an nicht rational und braucht notwendigerweise Regulierungen, da diese der Versuch sind, das irrationale System rational zu machen.

Basiert unser Markt auf Konkurrenz?

Das Problem geht aber tiefer, bis hinein in die sozialpsychologischen Grundlagen von Teilnehmern im Wirtschaftssystem: Diejenigen nämlich, die sich in der ökonomischen Konkurrenz befinden, wollen eigentlich keine Konkurrenz. Die kapitalistischen Manager lügen, wenn sie in einer Talkshow über diese Dinge befragt werden. In der Öffentlichkeit ist jeder Kapitalist. Aber intern macht ein totaler Konkurrenzdruck überhaupt keinen Sinn, denn der Sinn der Konkurrenz ist, zumindest in einem System, in dem es um Mehrwert und Profit geht, den Konkurrenten auszuschalten. Das Ziel der Konkurrenz ist, die Konkurrenz zu überwinden. Um es paradox auszudrücken: Konkurrenz ist, wenn man keine Konkurrenz will. Wenn man wirklich für Konkurrenz wäre, dann müssten die Konkurrenten wollen, dass die wirtschaftlichen Konkurrenten nicht verschwinden, denn das Verschwinden von allen Konkurrenten löst alle Konkurrenz am Ende auf.

Und so ist es ja auch: Die Konzentration in einigen Branchen ist so hoch, dass nur noch einige wenige das Rennen machen. Zudem will der Konkurrent seine Ruhe haben und sich nicht laufend über die eigene Existenz Sorgen machen. Man will planen, man muss Kosten kalkulieren und Investitionen für die nächsten Jahre tätigen. Das alles braucht Sicherheit und nicht Konkurrenz. Kein Mitarbeiter - jedenfalls nicht diejenigen, die gut ausgebildet sind und sich oberhalb der prekären Lohngrenze befinden - könnte halbwegs effizient arbeiten, wenn er oder sie laufend ersetzt werden müsste.

Absprachen sind daher nicht nur die Konsequenz von nationalen Wirtschaftsinteressen und Profitinteressen auf Kosten von Konsumenten und der Natur, sondern sie sind im System angelegt: Sie sind völlig rational, da sie die Konkurrenz ausschalten und daher die Teilnehmer für eine Weile entlasten. Das Konkurrenzprinzip funktioniert so ähnlich wie die nationalen Sicherheitssysteme: Keiner will, dass die anderen einen ausspähen, aber alle wollen die anderen ausspähen. Rational wäre es, wenn alle zugäben, dass jeder jeden ausspäht. Aber das wäre im Prinzip das Ende des Ausspähens und der Beginn einer Gesellschaft ohne Geheimdienste, da ja jeder wüsste, was die anderen tun.

Wie steht es mit der Planung?

Wenn man weiter über das Wesen kapitalistischer Konkurrenz nachdenkt, muss man auch über den Begriff der Planung neu nachdenken. Eigentlich ist es nämlich so, dass keiner der Marktteilnehmer daran interessiert ist, ein offenes, tagtäglich sich änderndes System vor sich zu haben. Niemand kann auch nur annähernd effizient wirtschaften, vor allen Dingen unter Bedingungen heutiger Rieseninvestitionen, wenn die Produktions- und Verteilungssysteme chaotisch funktionieren. Daher müssen Staat, Recht, Transport, Infrastruktur und andere dem Markt vorausliegende Bedingungen dem tagtäglichen Marktgeschehen entzogen werden, um das Geschehen selbst möglich zu machen.

Innerhalb von Firmen gibt es das tiefe Verlangen nach Planung, Sicherheit und Voraussage. Man will wissen, wie der Markt sich entwickelt. Selbst Marktforschung und Produktentwicklung in kleineren Wirtschaftssegmenten wollen das. Der Sinn von Kalkulationen ist, im Voraus zu berechnen, wie die Entwicklungen verlaufen. Man will wissen, wie die Konsumenten entscheiden, das heißt, man will eigentlich, dass die Konsumenten sich nicht entscheiden, sondern das Produkt »automatisch« kaufen.

Investitionen werden daher (wie etwa in der Entwicklung von medizinischer Forschung) geplant und Investoren abgesichert. Forschung und Entwicklung könnten heutzutage aufgrund der immensen Investitionssummen überhaupt nicht in Gang kommen, wenn die beteiligten Mitspieler nicht eine Planungssicherheit über Jahre hinaus hätten. Beispielsweise lebt die Pharmaindustrie davon, dass die Investitionen gesichert werden und der Staat die Profite am Ende möglich macht. Monopole werden kreiert, weil sie der einzige Ausweg sind, doch noch den Mehrwert aus dem System zu pressen.

Auch wenn das paradox klingen mag: Im Einzelnen funktioniert jedes mittelständische und Großunternehmen nur aufgrund von sorgfältig angelegten Fünfjahresplänen. Der Widerspruch ist also, dass auf der einen Seite alle von Nicht-Planbarkeit des Marktes reden, aber im Prinzip alle alles dafür tun, Planbarkeit zu erzeugen. Alle wollen eigentlich Planbarkeit, aber alle sollen glauben, dass Planung ein schlechtes Prinzip ist. Planung ist daher nichts, was es nur im »Sozialismus« gibt.

Und am Ende wieder das Auto

Kommen wir zurück auf die Branche, die uns die Diskussion zu Kartellen beschert hat: die Autobranche. Seit einiger Zeit nun hören wir, dass die Branche nicht nur auf Elektro umstellen will, sondern dass wir in Zukunft alle ein selbstfahrendes Auto besitzen sollen. Hier lassen sich alle Widersprüche im kapitalistischen System sehr schön ablesen, denn wie ließe sich die Idee eines selbstfahrenden Autos bestimmen? Wie wäre es mit dem Folgenden: Als Fahrer eines Google-Autos braucht man nichts mehr zu tun und kann lesen oder schlafen. Der Bordcomputer berechnet die perfekte Geschwindigkeit und wird via GPS und Satellit über möglichen stockenden Verkehr informiert. Die Berechnungen führen dazu, dass es keine Staus mehr geben kann, denn alle Autos sind miteinander vernetzt und alle Autos »wissen«, was sie zu tun haben. Die Koordination ist kalkuliert und im wahrsten Sinne »intelligent«. Unfälle können aufgrund der Vernetzung nicht mehr passieren. Man weiß immer, wann man ankommt, denn das Auto hat bei der Abfahrt schon berechnet, wie lange man für die Fahrt brauchen wird.

Das alles kommt einem irgendwie bekannt vor: Das selbstfahrende Auto nämlich ist in seinem Wesen die privatwirtschaftlich verkehrte Form eines perfekt funktionierenden öffentlich geplanten Transportsystems. Die Idee des selbstfahrenden Autos ist daher identisch mit der Idee eines öffentlichen Verkehrssystems - nur in verkehrter Form.

Der Kapitalismus kann nicht nur kapitalistisch sein. Er tendiert zu einer sozialen und öffentlichen Gesellschaft. Er verdreht die Grundprinzipien nur immer wieder. Das hat schon Marx vor 150 Jahren erkannt.

Christian Lotz ist Professor für Philosophie an der Michigan State University (USA)

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