Nur einer hing im Zaun

Der 1. FC Lokomotive gewinnt Leipziger Stadtduell, das bis auf einen einzelnen Zwischenfall friedlich verlief

  • Ullrich Krömer, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Direkt nachdem das 100. Leipziger Stadtderby zwischen BSG Chemie und dem 1. FC Lokomotive Geschichte war, schnaufte Lok-Trainer Heiko Scholz sichtlich angefressen in die Kabine. Über den 1:0-Auswärtssieg der »Lok’sche« zum Start der Regionalliga vor 5000 Fans im Alfred-Kunze-Sportpark in Leipzig-Leutzsch konnte sich »Scholle« Sekunden nach Abpfiff nicht freuen. Kurz zuvor hatte die Partie der Stadtrivalen für etwa zwölf Minuten unterbrochen werden müssen. Nach der Roten Karte gegen Chemie-Keeper Marcus Dölz, der einen Ball wohl knapp außerhalb des Strafraums mit der Hand pariert hatte, waren zwei maskierte Personen aus dem Lok-Block auf den Platz gesprungen. Ordner und Polizei stürmten auf das Spielfeld. Die schwarz Gekleideten und mit Sturmhauben und Sonnenbrillen Vermummten unter den Gästefans versuchten, die Delinquenten wieder über den Zaun zurück auf die Ränge zu ziehen; Sicherheitskräfte zerrten auf der anderen Seite an den Beinen des Platzstürmers, wodurch der hüftabwärts nur noch mit grauer Unterhose bekleidet an den Gittern hing. Lok-Spielführer und Fanliebling Markus Krug war selbst nah dran: »Ich bin selbst auf den Zaun gesprungen und habe diejenigen runtergedrückt, die noch oben saßen, um Schlimmeres zu verhindern. Reden kann man in dem Moment nicht mit denen.«

Es waren jene Szenen, die sich vor allem bei Lok beinahe reflexhaft immer dann abspielen, wenn brisante und medial beachtete Spiele anstehen. Bilder, die die »Macher« und Spieler beider Klubs, die mühsam und mit viel Herzblut an den Comebacks der Leipziger Traditionsklubs arbeiten, so wenig brauchen können wie eine neuerliche Insolvenz. Dementsprechend genervt sagte Scholz auch: »Ich hoffe, dass sie die festmachen und die nie wieder ein Stadion betreten. Das ist ja total hohl.«

Die schwarz gekleideten »erlebnisorientierten« Anhänger waren erst in der zweiten Hälfte in den Lok-Block gekommen. Die Polizei bestätigte, dass etwa 150 vom Leipziger Fanprojekt begleitete Personen nicht wie der Rest der friedlichen Lok-Fans mit Shuttlebussen zum Alfred-Kunze-Sportpark gefahren war, sondern auf eigene Faust per S-Bahn. In Leutzsch angekommen, war die Gruppe von der Polizei ausgiebig überprüft worden. Wer eine Karte besaß und nicht mit Stadion- oder Aufenthaltsverboten belegt war, durfte zur zweiten Hälfte in den Block. »Ich verstehe nicht, warum man die noch reingelassen hat«, sagte Chemie-Vorstandsboss Frank Kühne. Es habe keine Handhabe gegeben, die Personen weiter festzuhalten, antwortete Polizeisprecher Uwe Voigt.

Legt man jedoch als Maßstab an, wie groß der Hass der teils auch politisch verfeindeten Fanlager beider Klubs aufeinander ist, muss dieses Derby dennoch als Erfolg gewertet werden. Es gab keine direkten Aufeinandertreffen beider Anhängerszenen und die 500 anwesenden Polizisten stellten keine nennenswerten Straftaten fest. Tage vor dem Duell war am Bahnhof Leutzsch ein totes Hausschwein eingehüllt in Chemie- und Eintracht-Frankfurt-Devotionalien in einem Sarg gefunden worden. Das ist zwar höchst geschmacklos. Doch vor ein paar Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass dieses Spiel ohne körperliche Gewalt abläuft.

Sportlich betrachtet bezeichnete auch Scholz, der einst für beide Klubs gespielt hat, das Jubiläums-Stadtduell als »sehr würdig, hart, aber trotzdem fair geführt« - bis auf fünf Minuten. Sein Kollege Dietmar Demuth kritisierte: »Wir hatten nur Kampf und Leidenschaft entgegenzusetzen. Das langt in der vierten Liga nicht mehr. Wir haben keinen Druck aufs Lok-Tor bekommen.« Die Lok’sche, für die Innenverteidiger Robert Zickert das Tor des Tages erzielt hatte, sei der BSG noch ein, zwei Jahre voraus, so der gebürtige Querfurter. »Wir müssen schnell lernen, wie in der vierten Liga gespielt wird.«

Auch wirtschaftlich ist Lok, die dank eines Großsponsors über einen Etat von über 1,5 Millionen Euro verfügt, den »Chemikern« voraus, die einen sechsstelligen Betrag zur Verfügung haben und im kommenden Kalenderjahr mit zehn Prozent mehr planen. Sportdirektor Kühne berichtete, dass die Euphorie bei den Fans auch in den Gesprächen mit Geldgebern zu spüren sei. Auch alte Sponsoren zeigten laut Kühne wieder Interesse.

Während Lok bis 2020 in der 3. Liga angekommen sein will, hat man im Leutzscher Holz zunächst nur den Klassenverbleib im Blick. Chemie-Stürmer Tommy Kind sagte: »Ich sehe uns gut gerüstet, dass wir drei Mannschaften hinter uns lassen.« Und auch Scholz, der sich eine halbe Stunde nach Spiel doch über den Auftaktsieg freuen konnte, lobte die Konkurrenz: »Ich glaube, hier werden noch viele Regionalligisten straucheln. Chemie wird seine Punkte holen.«

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