Wie Leo Fischer einst für das »Zeit«-Magazin twitterte

Der »Titanic«-Autor und »nd«-Kolumnist schreibt exklusiv über eine Liebesbeziehung der besonderen Art

Das »Zeit«-Magazin ist eine Institution im deutschen Presswesen. Eigentlich nur eine Beilage der renommierten »Zeit«, vereint es auf seinen paar Dutzend Seiten erstaunliche Widersprüche. Neben Kochrezepten und Modestrecken gibt es luzide Aufsätze zu nationalen Fragen, wie etwa Mode und Kochen. Als Fokuspunkt eines liberal-urbanen Bürgertums lässt es gleichzeitig immer auch den rechtsnationalen Schwaller Harald Martenstein zu Wort kommen. Als labbriges Heftchen aus billigstem Pausenbrotpapier ruft es Anzeigenpreise von bis zu dreißigtausend Euro auf - die von verrückt gewordenen Juwelieren und Uhrmachern auch noch bezahlt werden.

Aus all diesen Gründen gehörte das »Zeit«-Magazin zu den Topquellen des Satiremagazins »Titanic«, wenn man sich die neuesten Infamien der Bourgeoisie antun wollte. Hier stehen ästhetisch ansprechende Fotografien über das Elend in der Welt neben Anzeigen der Leute, die für es verantwortlich sind; hier wird der Studienrat mit Kreuzworträtseln und Ratespielen bedient wie nur von irgendeiner Frauenzeitschrift, allerdings ohne dabei seinen Standesdünkel aufgeben zu müssen. Wo also anders findet man derart konzentriert und auf den Punkt gebracht wieder, was die Kritische Theorie »falsches Bewusstsein« nannte?

Einer meiner ersten Beiträge für »Titanic« stand ganz in der Nachfolge des »Zeit«-Magazins. Nachdem Anne Will und Caren Miosga in der ARD die Plätze getauscht hatten, gab es in der deutschen Presse zahllose Artikel, die sich mit dem Aussehen der beiden beschäftigten. Den empfindsamsten Text schrieb aber Christoph Amend ins »Zeit«-Magazin, spekulierte über Rosenlippen und die philosophische Aussagekraft von Frisuren. Ein Text, den ich im wesentlichen nur zu zitieren brauchte, um seine Parodie herzustellen.

Wenig später sollte mir meine Orientierung am »Zeit«-Magazin sogar materielle Früchte einbringen: Weil unser großes Vorbild sich regelmäßig in ein sogenanntes »Uhrenheft« verwandelt und zu dieser Gelegenheit die ohnehin dünnen Wände zwischen Anzeigenteil und redaktioneller Beigabe gänzlich einreißt, verfuhren wir bei »Titanic« genauso und behaupteten gegenüber unserer Anzeigenagentur, nun auch ein »Uhrenheft« herauszubringen. Mit Erfolg: Der Uhrenhersteller »Nomos«-Glashütte buchte Anzeigenraum - und entlohnte uns mit einer schönen Uhr, die wir sogleich unter unseren Lesern verlosten.

Sie werden verstehen, dass ich nach diesen Erfolgen innerlich jubilierte, als mir ein Redakteur des »Zeit«-Magazins letzte Woche das Angebot machte, für einen Tag den Twitter-Account des Magazins zu übernehmen. Alles, was ich dazu brauchte, waren Benutzername und Passwort; inhaltlich seien mir keine Schranken auferlegt, hieß es, auch »Titanic«-Beiträge seien kein Problem.

Am Montag legte ich begeistert los: »Hallo, Freunde von dem ZEIT-Magazin«, schrieb ich, »wie startet Ihr in die KW32? Was sind für Euch wichtige Trends bzw. Impulskäufe?« Diese Art der Ansprache hatte man bei dem Account anscheinend lange vermisst - bekamen Beiträge des »Zeit«-Magazins meist nur eine Handvoll Likes (bei über 30 000 Followern!), hatte ich hier schnell die hundert voll. Meine Beiträge hatte ich mit dem Kürzel »(lf)« zu versehen, aber da auch meine Vorgänger dies regelmäßig vergessen hatten und ich auch nicht weiter ermahnt wurde, tat ich dies nur in wichtigen Fällen.

Durch meinen Anfangserfolg ermutigt, versuchte ich weiter, aktuelle Lifestyle-Themen mit Marketing zu koppeln - so, wie ich es am Vorbild gelernt hatte. »Thema Helikoptereltern: Kranker Unsinn oder wichtiges Element der totalen Zurichtung der Gesellschaft? Bitte diskutieren & Klicks generieren«, schrieb ich. Auch diese Offenheit in der werberischen Absicht wurde vom Publikum belohnt. Ich war ganz offenkundig in den Wesenskern des »Zeit«-Publikums vorgedrungen. Ich spürte, dass sich hier etwas Großes entwickelte. Eventuell würde mich das Magazin, berauscht durch meinen Erfolg, gar als Social-Media-Berater anstellen? Diese Chance galt es zu nutzen. Ich würde mein Publikum auf Powertweets und geisteskranken Grind einstellen - gemeinsam würden wir Twitter aus den Angeln heben.

Wie im Rausch schrieb ich Tweet um Tweet, begann, die Leser durch Umfragen einzubinden: »Würdet auch Ihr ein Kartell bilden, wenn Ihr eine Ansammlung von Automobilunternehmen mit besten Verbindungen in die Politik wärt? Seid ehrlich!« Ich traf zusammen mit den Lesern redaktionelle Entscheidungen: »Überlege, mit dem ›Zeit‹-Account etwas Kritisches bei Trump drunterzukommentieren. Evtl kann man ihn so medial in die Knie zwingen? Euer lf«. Ich bat meine Leser, über die schlechtesten Luxusuhren abzustimmen, um auch unsere Sponsoren auf der Welle des Erfolgs reiten zu lassen.

Es kam, wie es kommen musste: Mein Erfolg stieg mir zu Kopf. Die Gier nach Aufmerksamkeit und schnellen Klicks führte mich auf die schiefe Bahn. Als ich Pushnachrichten aufs Handy bekam, die mit »Mehmet Scholl ist…« begannen, musste ich nicht weiterlesen, um sie für die Leser des »Zeit«-Magazins zu ergänzen: »Eilmeldung: Mehmet Scholl ist tot«, tweetete ich, um später zu erklären, dass der Rauswurf durch die ARD ja fast so etwas wie den gesellschaftlichen Tod bedeutete. Diese Nachricht erfuhr noch mehr Rückhalt als sonst, und derart bestärkt, kommentierte ich die neuesten Nachrichten aus Nordkorea mit »Eilmeldung: Südkoreanische Medien melden Explosion, Lichtblitz über Pjöngyang« - richtigstellen konnte ich diese Meldung ja immerhin später noch.

Leider rief dieser Scoop nicht nur Wellen entzückter Leser, sondern auch üble Neider auf den Plan. Julian Reichelt, der glücklose Nachfolger Kai Diekmanns im Amt des Chefclowns der »Bild«-Zeitung, beklagte auf seinem Twitter-Account die »Selbstzerstörung« des »Zeit«-Magazins. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, denn nun agierten plötzlich meine Betreuer: Die beiden Schlagzeilen waren verschwunden. Wenige Minuten später war auch mein Passwort geändert.

Ich war entsetzt: Julian Reichelt, der sonst Prominenten in den Schlüpfer blickt und die »Bild«-Zeitung mit Fotos toter Kinder schmückt wie nur irgendein »Tatort«-Perverser seinen Hobbykeller, hatte Macht über die publizistische Speerspitze des Liberalismus? Und konnte dem »Zeit«-Magazin aus purer Missgunst den Erfolgshahn zudrehen? Mit meiner Wut war ich nicht allein: Unter dem Hashtag FreeLeo unterstützten mich zahllose Twitterer. Auch wichtige Online-Publikationen wie »Meedia«, »Vice« und »Spiegel« unterstützten mich. Währenddessen versuchte Reichelt durch einen Beitrag im Sportteil von »Bild« (»Geschmacklos-Scherz über Mehmet-Scholl«) seine Leser gegen mich aufzuhetzen. Doch hatte er deren Anzahl überschätzt - die Solidaritätsbekundungen überwogen die Anzahl der Hassmails bei weitem.

Nun weiß ich selbst nicht, wie weiter zu verfahren ist. Die Hand in Richtung »Zeit«-Magazin bleibt ausgestreckt. Ich bin weiter bereit, Twitter zusammen mit den Kollegen auf Vordermann zu bringen und Julian Reichelt in den wohlverdienten Kofferraum der Geschichte zu packen. Dazu bräuchte es jetzt allerdings ein starkes Signal des »Zeit«-Verlags. Hat er den Mumm, das Monopol des Springer-Verlags über Twitter zu brechen? Ich will es, zusammen mit Ihnen, liebe Follower, weiter hoffen.

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