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Vivaldi am Millerntor

Die »Fußballfibel« zum FC St. Pauli erzählt in vier Jahreszeiten vom Kampf seiner Anhänger für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft

  • Katja Herzberg
  • Lesedauer: 4 Min.

Bis zum nächsten runden Vereinsjubiläum des FC Sankt Pauli von 1910 ist es noch ein bisschen hin, die »Fußballfibel« zu diesem Klub erschien dennoch zur richtigen Zeit: An diesem Wochenende feiert die Ultragruppe »Ultrà Sankt Pauli« ihr 15-jähriges Bestehen, der Verein untermauerte beim G20-Gipfel Anfang Juli sein gesellschaftliches Engagement und sportlich könnte St. Pauli in dieser Saison mit dem Wiederaufstieg in die 1. Bundesliga den großen Rivalen HSV wieder einholen. Schließlich ist St. Pauli Hamburgs einziger Fußballverein - das lernt zumindest jede und jeder beim ersten Besuch des Millerntorstadions. Die Rothosen werden von St. Paulianern allenfalls als Vorstädter betrachtet.

Solche historisch gewachsenen Fanerzählungen haben Fabian Fritz und Gregor Backes in Band 13 der »Bibliothek des Deutschen Fußballs« gesammelt. Damit werden sie dem Anspruch der Reihe mehr als gerecht: Fans sollen in den von Frank Willmann herausgegebenen Fibeln ihren Klub vorstellen und beschreiben, welche Beziehung sie zu ihm pflegen.

Dafür haben Fritz und Backes zwei Protagonisten erschaffen, die die Leser auf eine einjährige Reise durch den St.-Pauli-Kosmos mitnehmen. Denn die Fanszene des FCSP ist nicht nur groß, sie ist auch außergewöhnlich vielfältig aktiv. Dieser Kombination ist es wohl zu verdanken, dass diese Fibel mit Hilfe von mehr als 30 Autorinnen und Autoren entstanden ist. Denn für die Braun-Weißen ist nicht die Rivalität zum HSV identitätsstiftend, sondern das Engagement für einen Fußball und eine Gesellschaft ohne Diskriminierung. Diese Idee findet sich auf den unterschiedlichsten Ebenen des Klublebens.

Das lernt Karlo, der aus Kaiserslautern zum Studium nach Hamburg kommt, schnell. Die Autoren schicken ihn in Anlehnung an Vivaldi und seine »Vier Jahreszeiten« durch die Stadt, um Politisches, Sportliches, die aktive Fanszene und ihre Beziehungen zu anderen vorzustellen. So machen sie gleich klar, dass es am Millerntor nicht nur eitel Sonnenschein gibt und gab, die Geschichte von St. Pauli lebt nicht nur sportlich von Aufs und Abs - und dem ständigen Hinterfragen der eigenen Entwicklung.

So treffen Karlo und seine Bekannte Freddy, die ihn zu Amateurspielen genauso wie in die Fanräume mitnimmt, gleich zu Beginn im Sommerkapitel Gregor Backes. Der hat sich mit der Geschichte des Klubs während des Nationalsozialismus beschäftigt. Damals hatte der Verein noch nicht den widerständigen Charakter, der heute einen Gutteil seines Images ausmacht. Die NS-Ära war vielmehr lange ein blinder Fleck. Das gilt auch für vermeintlich einfache Fragen wie die Wahl der Vereinsfarben. Eine Begründung, wieso die Entscheidung auf Braun-Weiß fiel, sei nicht überliefert, hat Jörn Kreuzer herausgefunden.

Immanente Fragen wie »Was sind wir?« stehen dann im Fokus des Bandes. Michi Frunsch beschreibt die »Schicksalsgemeinschaft« so: »St. Pauli ist mehr als Fußball.« Das macht der Autor nicht nur an der Bandenaufschrift »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen« fest. Entscheidend seien Anderssein, Widerstand, Subkultur und Kreativität - »St. Pauli ist der Weg als Ziel«, heißt es. Und: Es gehe darum, Fußball zu sein »mit Herz und Verstand«.

Das Engagement als verbindendes Element zwischen Verein und Stadtteil stellt Fabian Fritz aus, wenn er den Fangesang »Gehst Du durchs Viertel, hörst jeden rufen. Liest es auf Schildern, Wänden und auch Stufen...« zitiert. Auch wenn der Stadtteil in den vergangenen 20 Jahren einen so einschneidenden Wandel erlebt hat wie der Profifußball, sei die Faszination geblieben - weil »die Menschen, die sich die hippe Antihaltung des Stadtteils einfach in Form einer Wohnung kaufen und meistens nichts zu den gewachsenen Strukturen beitragen wollen, noch lange nicht die Oberhand gewonnen haben«.

Ähnlich sieht es in den Vereinsstrukturen aus. Dort habe sich über die Jahre eine »Kultur der Einmischung und Mitbestimmung« etabliert, erklärt Aufsichtsratmitglied Roger Hasenbein, nicht ohne auch Streit anzusprechen. »Keiner hat gesagt, dass Demokratie einfach ist, aber sie ist doch für unseren Verein die einzige Möglichkeit.« Solches Bewusstsein über das eigene Tun ist bei St. Pauli vielfach auch in der Fanszene zu spüren. Im Winter- und Frühjahr-Kapitel lernt Karlo zahlreiche Initiativen kennen. Dazu gehören Fankneipen wie das »Jolly Roger« genauso wie die Gruppe »St. Depri«, die Menschen mit Depressionen unterstützt, oder die größte Ultragruppierung »Ultrà Sankt Pauli«, die sich 2002 gründete.

Immer wieder wird der FCSP für seine Fans gelobt. Dass die Südkurve im heutigen Millerntorstadion einen Stimmungsblock von 3000 stets lauthals singenden Fans beheimatet, war allerdings kein Selbstläufer, wie Karlo erfährt. Henning berichtet ihm über die Ablehnung, auf die die Ultras zunächst gestoßen sind. Die schwere Anfangsphase habe jedoch zusammengeschweißt. Der Motor von Ultrà Sankt Pauli (USP) sei die Liebe zum Verein. Eben jene wird wohl auch am Wochenende bei der USP-Feier mit Freunden und Weggefährten zelebriert - die Klänge von Vivaldi werden dabei allerdings eher nicht am Millerntor zu hören sein.

Frank Willmann (Hrsg.): Fußballfibeln - Bibliothek des Deutschen Fußballs Band 13 - FC Sankt Pauli. Autoren: Fabian Fritz & Gregor Backes. Culturcon Medien, 250 S., brosch., 12,99 €.

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