Stadtoldendorf: Vermessung der Distanz

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sorgt auch in der niedersächsischen Provinz für Unruhe

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Konflikt zwischen der türkischen und der deutschen Regierung sorgt auch in der niedersächsischen Provinz für Unruhe. Der Bürgermeister der Kleinstadt Stadtoldendorf, Helmut Affelt, hat die türkischstämmige Integrationsbeauftragte der Stadt, Esin Özalp, aufgefordert, sich vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu distanzieren oder ihr Amt aufzugeben. Affelt ist Mitglied der CDU. Özalp gehört der SPD an, sie sitzt für die Partei im Gemeinderat - und sie hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Als erster hatte der Norddeutsche Rundfunk über den Fall berichtet, inzwischen schlägt er Wellen bis in die Landeshauptstadt Hannover.

In einer auch »nd« vorliegenden E-Mail Affelts an die ehrenamtliche Integrationslotsin heißt es: »Liebe Esin, angesichts der verbalen Angriffe gegen demokratische Parteien in Deutschland durch den türkischen Präsidenten Erdogan, halte ich es für dringend geboten, dass Du Dich als Integrationsbeauftragte, als SPD Parteimitglied und als Mandatsträgerin öffentlich äußerst … Ich bin CDU Mitglied und fühle mich persönlich verletzt, wenn ich als ›Türkeifeind‹ durch Präsident Erdogan bezeichnet werde. Liebe Esin, bitte äußere Dich sehr zeitnah öffentlich zu dem Problem. Ansonsten bist Du meiner Ansicht nicht mehr politisch als Integrationsbeauftragte der Stadt Stadtoldendorf tragbar.«

Özalp reagierte entsetzt auf die Aufforderung ihres Bürgermeisters. »Ich musste die Mail mehrmals lesen, weil ich es nicht glauben konnte«, sagt sie. Sie sei deutsche Bürgerin und in der Bundesrepublik politisch aktiv, sagt sie: »Für mich ist Deutschland wichtig, weil ich in Deutschland lebe«. Nicht Erdogan sei ihr Präsident, sondern Frank-Walter Steinmeier, »und der sitzt in Berlin«. Erdogan solle seine Politik in der Türkei machen und »uns hier in Ruhe lassen«.

Ihr ehrenamtliches Engagement ist für Özalp auch ein Beweis, dass sie zur deutschen Gesellschaft gehöre, auch wenn sie türkische Wurzeln habe und als gläubige Muslimin Kopftuch trage. Sie verstehe auch nicht, warum der Bürgermeister nicht einfach das Gespräch mit ihr gesucht habe, sagt Özalp. Sie kam 1979 im Alter von sechs Jahren als Tochter von sogenannten Gastarbeitern nach Stadtoldendorf und lebt seit Jahrzehnten mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der kleinen Stadt. Seit 2009 ist sie Integrationsbeauftragte, kümmert sich um Geflüchtete und Einwanderer.

Die SPD in Stadtoldendorf stellte sich hinter ihr Mitglied. »Wir stehen zu 100 Prozent hinter Esin Özalp«, erklärte die Partei am Mittwoch. Sie mache als Integrationsbeauftragte »einen super Job«: »Jeder Mensch, der Hilfe braucht, bekommt diese auch. Mit viel Herzblut setzt sie sich für die Belange aller Migranten in Stadtoldendorf ein.« Özalp sei ein Beispiel für eine gelungene Integration in unsere Gesellschaft.

Es sei »schon echt eigenartig«, von einer deutschen Staatsbürgerin zu fordern, sich vom türkischen Präsidenten zu distanzieren, heißt es in der Stellungnahme der Stadtoldendorfer SPD weiter. Zum Glück gebe es Sippenhaft schon seit längerer Zeit nicht mehr in Deutschland. Die Sozialdemokraten wollen das Ansinnen nun »zeitnah« im Rat thematisieren.

Affelts Forderung sorgte aber auch bei der Integrationsbeauftragten des Landes, Doris Schröder-Köpf (SPD), für Empörung. Das Vorgehen des Bürgermeisters sei inakzeptabel, sagte sie dem NDR. Immer öfter werde von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in aggressivem Ton verlangt, sich von Erdogan zu distanzieren. Viele fühlten sich dadurch »beleidigt oder gekränkt, dass sie auch in der zweiten oder dritten Generation immer noch auf eine Herkunft aus einem anderen Land reduziert werden.«

Aus Sicht der Türkischen Gemeinde in Hannover hat die Angelegenheit einen faden Beigeschmack. Von US-Amerikanern in Deutschland werde ja auch nicht verlangt, sich von Trump zu distanzieren, sagte Vorstandsmitglied Nejla Coskun nach NDR-Angaben. Oder von Russen, sich von Putin abzugrenzen. Deutschtürken aber würden von beiden Seiten - in Deutschland und in der Türkei - instrumentalisiert.

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