Wahl-O-Mat

Leo Fischer über Innereienlesen am eigenen Körper und das dem Volkswillen zum Fraß vorgeworfene Gedenken an die Shoa

Ein gutes Beispiel für die latente Geist- und Gehirnfeindlichkeit in diesem Land, für den Unwillen, sich als wo nicht emanzipiertes, so doch emanzipierbares Subjekt zu begreifen, ist das Phänomen der »lustigen Brille«: Ärzte, Architekten, Künstler, ja Akademiker überhaupt statten sich mit besonders bunten und bizarren Brillengestellen aus, wie sie anderswo nur Kindern im Vorschulalter aufgezwungen werden. Wie um im Nachhinein die mühsam erworbenen akademischen Meriten abzustreifen, negiert man über die lustige Brille den Ernst der eigenen Profession: Seht her, ich bin gar kein Intellektueller, ich mime ihn nur; auf jeden Fall bin ich einer von euch geblieben. Antiintellektuelle Gewalt, das Bloßstellen des Strebers, wird vorausgeahnt und sich im Kleinen selbst zugefügt, um sie im Großen abzuwehren.

Ein ähnlich präventiver Unernst ist dem Rummel um den Wahl-O-Maten eigen, dem Wahlhilfe-Tool, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Die Zugriffe wachsen rasant, von 2009 bis 2013 haben sie sich mehr als verdoppelt; zu vermuten steht, dass sie seit der Neuauflage am 1. September schon die Höhe der Vorjahre erreicht haben. Hinweis darauf ist die massenhafte, immer halb spöttische, halb erstaunte Wiedergabe der Ergebnisse in den sozialen Medien. Durch das Beantworten einiger Dutzend Aussagen zu allgemein gehaltenen Themen wie Europa oder sozialem Wohnungsbau mit Reaktionen von »Stimme zu« bis »Stimme nicht zu« und die Gewichtung nach persönlichen Präferenzen wird die Nähe der eigenen Weltanschauung zu maximal acht der wählbaren Parteien berechnet; aufs Zehntel genau. So verpönt die Diskussion politischer Willensbildung am Arbeitsplatz und in der Familie traditionell ist, so emsig wird sie dort zelebriert, wo sie die Darreichungsform eines Persönlichkeitstests oder Horoskops gefunden hat. So lässt man sich Demokratie gefallen: als ein unverbindliches Spiel, geführt nach Regeln, die man selbst weder begreifen noch ändern muss, um daran teilzunehmen. Sie ist nichts, was man selber will; historisch von oben in den Obrigkeitsstaat eingeführt, kann man sich dank Wahl-O-Mat wieder nach oben orientieren, kann den vorgegebenen Pfaden folgen, die von höherer Stelle angelegt wurden, gemäß vager Bauchgefühle, deren Herkunft man so wenig reflektiert wie die der sich zur Wahl stellenden Parteien. Das Austesten der eigenen Vorurteile wird dabei zum Innereienlesen am eigenen Körper - ach was, im Herzen bin ich ja doch CDU, wer hätte das gedacht. Der eigene Wille, zerlegt in demoskopische Komponenten, bleibt letztlich Organ der Unfreiheit; der Wahlvorgang nur mehr Einsicht in die Notwendigkeit, das zu vollziehen, was einem ohnehin aufgebürdet wurde.

Die Begeisterung über diese Unfreiheit täuscht nicht nur darüber hinweg, dass es sich letztlich, wie überparteilich auch immer sich die Bundeszentrale geriert, um ein Propagandainstrument der Regierung handelt. Dass etwa kleinere Parteien wie DKP oder MLPD überhaupt auftauchen, war keine großzügige Geste der Regierenden, sondern musste von der ÖDP auf dem Klageweg erzwungen werden. Die Begeisterung täuscht auch darüber hinweg, dass Fragen in den Katalog gewandert sind, die Schönstes für die neue Legislatur befürchten lassen: Kindergeld nur für Deutsche und Straffähigkeit von Kindern unter 14 Jahren sind die harmloseren Beispiele dafür, wie sehr der politische Diskurs insgesamt der AfD hinterherhechelt; auch die Förderung von Projekten gegen Rechtsextremismus wird plötzlich zur Disposition gestellt.

Endgültig obszön ist das lapidar dem Volkswillen zum Fraß vorgeworfene Gedenken an die Shoa: »Der Völkermord an den europäischen Juden soll weiterhin zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur sein.« So ist über den Umweg der sogenannten politischen Bildung letztlich gelungen, woran rechtsextreme Parteien seit Jahrzehnten scheitern: die Schlussstrichdebatte auf das Niveau eines Sportpalastentscheids herunterzubrechen. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viele in der Anonymität des Internets hier ihrem antisemitischen Ressentiment freien Lauf lassen. Gänzlich unheimlich wird dies vor dem Hintergrund, dass die Fragen des Wahl-O-Maten nach Auskunft der Bundeszentrale von »jungen Menschen« zusammengestellt werden, dass die Jugend also von allen zur Disposition stehenden Themen ausgerechnet über dieses neu nachdenken möchte - und hier eine Bundeszentrale weder eingreift noch reflektiert, wenn stillschweigend der Holocaust zur Relativierung preisgegeben wird.

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