Dominanz der Musik

»L'Orfeo« von Claudio Monterverdi uner der Leitung von Eliott Gardiner beim Musikfest Berlin

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer in die Oper geht, erwartet in der Regel das große multimediale Erlebnis. Nicht nur Orchester, Chor und Solisten, sondern auch prächtige Kostüme, ausgefeilte Bühnenbilder, Requisiten und Choreographien, dramatische Darstellungsformen und nicht zuletzt das spezielle Ambiente der dafür geschaffenen Spielstätten. Man denkt an Verona, die Mailänder Scala, die Wiener Staatsoper, die Metropolitan Opera in New York, an Dresden und Sydney. Und in Berlin sicherlich auch an die in der langen Umbauzeit schmerzlich vermisste Staatsoper Unter den Linden.

Aber Oper in der Philharmonie? Ohne Logen, Orchestergraben und Bühnenbild? Ja, sagt Sir Eliott Gardiner, der mit der halbszenischen Aufführung der drei großen Opern von Claudio Monterverdi für besondere Höhepunkte beim diesjährigen Berliner Musikfest sorgen soll und am Sonnabend damit begann. Es widerstrebe ihm, »die Guckkastenbühne als einzig möglichen Ort für eine Opernaufführung anzusehen«. Dieser Rahmen sei »vorbelastet und unterstützt bei einem Teil des Publikums das Vorurteil, dass das Auge wichtiger sei als das Ohr, was ich persönlich als einengend empfinde«, so Gardiner zu seinem Konzept

Die 1607 in Mantua uraufgeführte Oper »L'Orfeo«, eine »Favola in Musica« in einem Prolog und fünf Akten, zelebriert auf der Basis einer Geschichte aus der griechischen Mythologie eine große Palette menschlicher Gefühle und Erfahrungen: Freude, Tod, Verzweiflung, Hoffnung, Erlösung. Das Libretto stammt von Alexandro Striggio. Dies durch entsprechende Melodien, Harmonien und Klangfarben in zuvor nicht erlebter Art und Weise in eine geschlossene musikalische Form gebracht zu haben, war die epochale Leistung Monteverdis, der auf der Schwelle zwischen Renaissance und Barock die Tür für Neues ganz weit öffnete und - deutlich hörbar - auch die Arbeit von Johann Sebastian Bach rund 100 Jahre später inspirierte.

Die Musik dominiert das Geschehen bei dieser Inszenierung. Die in zwei Gruppen aufgeteilten English Baroque Soloists nehmen den Großteil der schmucklosen Bühne ein, die Sänger des Monteverdi Choirs und manchmal auch die Solisten stehen unmittelbar dahinter. Sparsam, aber effektvoll die Auf- und Abgänge, wobei teilweise auch die Gänge des Auditoriums genutzt werden, alles unterstützt von einer ruhigen, aber effektvollen Lichtregie. Auch bei den Kostümen und szenischen Momenten hat sich die Regie von Elsa Rocke auf wenige Farbtupfer beschränkt, vom fröhlichen Fest bei den Hochzeitsvorbereitungen im ersten Akt bis zur Düsternis in der Unterwelt, in der Orfeo verzweifelt um die Rückkehr seiner Euridice in das Reich der Lebenden kämpft. Dazu noch einmal Eliot Gardiner, der sich seit Jahrzehnten mit dem Werk Monteverdis auseinandersetzt: »Wir müssen Ausdrucksformen und Bühnenkonventionen finden, mit denen wir die Fantasie beflügeln und sie nicht am Gängelband führen.«

Natürlich wäre diese bis ins kleinste Detail durchdachte Inszenierung wenig wert, wenn die ausführenden Musiker sie nicht mit Glanz und Leben füllten. Doch das tun sie - auf mitreißende und tief berührende Art und Weise. Der Tenor Krystian Adam zelebriert den antiken Sangeshelden Orfeo als kraftstrotzenden, virilen Macho, der von seiner Liebe fast verzehrt wird, aber dennoch Tod und Teufel nicht fürchtet. Der in manchen Passagen glockenhelle Sopran von Hana Blazikova verleiht sowohl der Muse im Prolog als auch der durch einen Schlangenbiss kurz vor der Hochzeit dahingerafften und danach ins Totenreich verdammten Euridice eine betörende Zartheit und Zerbrechlichkeit. Die Mezzosopranistin Lucile Richardot als Unglücksbotin überbringt dem entsetzten Orfeo in atemberaubender Eindringlichkeit die Nachricht vom schrecklichen Tod seiner Geliebten. Countertenor Kangmin Justin Kim verleiht der Speranza (Hoffnung) eine fast schon sphärische Dimension. Gianluca Bratto als erbarmungsloser Herrscher der Unterwelt (Pluto) entdeckt angesichts des Leid der Liebenden seine mitfühlende Seite und führt seinen Bass in warme, wohlige Register.

Es gibt keine Ausfälle. Jede Rolle wird stimmlich, aber auch choreographisch mit Präzision und starkem, aber nie übertriebenem Ausdruck gefüllt. Chor und Orchester bewegen sich unter der gewohnt behutsamen Stabführung von Eliot Gardiner nahezu traumwandlerisch sicher durch das riesige Spektrum von Monteverdis Klangfarben, von fast schon schwelgenden Streicherklängen um den Sänger Orfeo bis hin zu Posaunen, Zinken und der schnarrenden Kleinorgel (Regal) in der Unterwelt. Und auch ohne Visualisierung mit dem Holzhammer werden aus den fröhlichen Hirten und Nymphen des Chores in den späteren Akten dämonische Höllengeister.

Es sind diese »musikalischen Kostüme« und »hörbaren Kulissen«, die ein aufwendiges Bühnenbild und dramatische Szenenbilder so vollkommen überflüssig machen. Und so war diese denkwürdige Inszenierung in der Berliner Philharmonie viel mehr als eine große Opernaufführung: Sie war ein wahrer Meilenstein in der Rezeption des großen Claudio Monteverdi im Jahr seines 450.Geburtstages.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal