So etwas gehört sich nicht

Musikfest Berlin: Teodor Currentzis und das Ensemble MusicAeterna

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Langsam geht das Licht weg. Halbdunkel. Eine lange währende Zeremonie mit Meister kündigt sich an. Schwarze Gewänder mit Kopf und Füßen wandeln wie Mönche, die schwerwiegende Geheimnisse tragen, von links zur Mitte der Bühne und bilden einen Kreis. In der Hand tragen sie brennende Kerzen. Inmitten gefangen, ohne Kerze, der Dirigent Teodor Currentzis.

Ein Wunder diese Exposition, heilig wie die Chöre der Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert, Musik, die Chöre längst wieder gern singen, in Kirchen wie in säkularen Räumen. Denn sie strahlt unheimliche Ruhe aus und ist klanglich reizvoll. Die Töne bewegen sich im Terz- und Quartraum mit angrenzenden Halbsekundintervallen. Hildegards Musik, aus tiefer Gläubigkeit genährt, führt in Teilen auch eine gewisse Gelassenheit und Heiterkeit mit. Die ist nötig, um beim Hören nicht dauernd die Augen zu senken.

Die Sängerinnen und Sänger des Nowosibirsker Ensembles MusicAeterna scheinen auf solche Musik durchaus abonniert. Das Langsame, vollkommen Ausgehörte, in ausschwingenden Linien sich Offenbarende liegt ihnen, aber auch das genaue Gegenteil, die Radikalität chorischer Mitteilung. Beides fand an dem Musikfest-Abend in der Philharmonie sein Recht.

Theodor Currentzis, der Grieche, den es in den Raum des Urals zog, um dort musikalische Aufbauarbeit zu leisten, überrascht immer wieder. Das für diesen Abend annoncierte Programm warf er um. Fast schon eine Tugend bei ihm. Offenkundig experimentiert er verschiedene Aufführungsoptionen durch, und sei es reflexartig. Auch hier ist er Innovator. Hildegard von Bingen und Arvo Pärt, nicht vorgesehen, kamen hinzu, »Immortal Bach« des Norwegers Knut Nystedt entfiel. György Ligetis »Lux Aeterna«, Dauerbrenner in Currentzis-Programmen, rückte von der Mitte nach vorn, die Chöre Henry Purcells verteilten sich anders. Derlei macht in den Tempeln der Konzertmusik im Prinzip niemand, so etwas gehört sich nicht. Die Zuhörer scheinen teils irritiert, teil überrascht. Entscheidend ist, was von der Bühne kommt, und das stimmte.

Nach der Pause alles wie vorgesehen. Purcells »Remember not, Lord, Our Offences« vor Mozarts »Requiem«, dem Paradestück des Abends, dahinter eine sehr schöne, im Brahmsschen Stil gehaltene, ins Innere der »Seele« führende Zugabe.

Zentral in der ersten Hälfte die Chöre von Strawinsky und Alfred Schnittke. Ersterer komponierte das »Credo« für gemischten Chor a cappella 1932 (rev. 1949). Und plötzlich klang es, als gingen die Lichter an und rückten den tanzenden, sich auslassenden Russen ins Bild. Folklore, chorisch formiert und meisterhaft geboten. Schnittke wiederum wendet sich a cappella rückwärts, um sich im retardieren Vorwärtsgang zu neuen Techniken Gehör zu verschaffen, allerdings etwas schwächlich. »Ich, der ich um die menschlichen Leidenschaften weiß« aus dem Konzert für Chor (1984/85), nach Texten des alten armenischen Mystikers Gregor von Narek, ist wirklich und durchgängig ein »Ich«-Stück. Alte Techniken der Chorbehandlung verwandelt es fast unmerklich in neuere. Der unpastörliche Text (Übertragung: Grogory Gerenstein) trägt durchaus sozialen Gehalt: »Ich schrieb für Mann und Frau,/ für die Erniedrigten und die Aufsteiger,/ für Herrscher und Beherrschte, für Täter und Opfer,/ für die, die trösten, und die, die getröstet werden./ Ich schrieb für sie zu Pferd und zu Fuß,/ für die Unbedeutenden und die Großen,/ für Städter und Einsiedler …« Am Ende sollen jene Leser, die für ihren »dunkle Sünde« büßen, in den Versen Ruhe und Gottes Gnade finden. Vor allem dies drückt sich in Schnittkes Gesängen aus: Verzicht, Ruhe, Einkehr.

Von Schnittke kamen auch Stücke aus den »Drei geistlichen Gesängen« für Chor a cappella zu Gehör, ebenfalls Mitte der 1980er Jahre komponiert. Sie bewahren alte Musik. Minimales an Eigenem tritt in die selten anhaltenden, aus sich herausgehenden Klanggewebe. Arvo Parts »Salve Regina« für gemischten Chor und Orgel (2001/02), ein Orgelschrank stand hell leuchtend auf der Bühne, bewegte sich auf ähnlicher Bahn. Wieder andere Diktion: die Frische, welche die achtstimmigen Purcell-Chöre »Hear my praller, Lord« und »Remember not, Lord, Our Offences« abstrahlen. Letzteren zelebrierte der schwarz gewandete gemischte Chor sogar mit Effekten des Ausdruckstanzes. Körper und spinnenwebenförmig gespreizte Finger bewegen sich synchron wie asynchron zu den Rhythmen und Gesten der Tongewebe.

Sensationell die Aufführung von Mozarts letztem, legendenumwobenen großen Werk, dem »Requiem«. Das Werk, durch die Jahrhunderte hindurch in Kirchen und Konzertsälen bis zum Überdruss strapaziert, vom Publikum bewundert und bejubelt, scheint als Fragment unverrückbar wie der Torso in der Landschaft, ständig gereinigt von Wind und Wetter. Doch der Schein trügt. Das Werk steht immer frei für Entdeckungen. Teodor Currentzis hat sich die Quellen und Noten noch einmal gründlich angeschaut, auch die Skizzen Mozarts, die übrig blieben, unbeachtet von seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr, der das Requiem-Fragment vervollständigt hatte. Bei Currentzis sind die Skizzen plötzlich wertvoll.

An den Schluss des »Lacrimosas«, das kadenzförmig ausläuft, setzt er ein unvollendetes vierstimmiges, fast unbegleitetes Skizzenmodell, sodass die Sequenz originell schließt und darüber regelrecht auflebt. Dann verwendet er zusätzlich Posaunen. Jene alter Bauart blasen ganz links hinter dem Paukisten, die gewöhnlichen neuer Bauart stehen in der Mitte. Die Violingruppe musiziert ebenso stehend, wie die Choristinnen und Choristen stehend singen. Die Solistengruppe ist so ausgewogen und sängerisch auf allerhöchstem Niveau, dass es einem schauert, wenn sie nur ansetzt. Die »Kyrie«-Fuge, am Ende wiederholt, mit angefügtem »Dies Irae«, kommt so schlagend, so überzeigend, so irrsinnig, dass die Ohren vermeinen, derlei Musik noch nie gehört zu haben.

Currentzis und die Seinen - was sind das für großartige Künstler. Sie kommen aus dem Ural und schicken sich an, die Musikwelt aufzumischen.

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