»Dieses Mal ist es wirklich anders!«

Alban Werner über das Elend der sozialdemokratischen Linken und seine Folgen

  • Alban Werner
  • Lesedauer: 14 Min.

Als ich noch nicht allzu lange SPD-Mitglied und Jungsozialist war, bot mir ein langjähriger sozialdemokratischer Genosse eine Erklärung für die innerparteiliche Hackordnung der SPD an, die bis heute ganz gut funktioniert. »In der SPD«, sagte er mir, »schreiben die Linken die Programme und die Rechten machen die Politik!«. Als ich bereits zehn Jahre kein SPD-Mitglied mehr war und in einer konspirativen Gruppe mit Sozis und Grünen zusammensaß, erklärte einer der anwesenden Sozis ganz ähnlich: »Wenn sich SPD-Linke treffen, geht es immer darum, wer welchen Antrag schreibt, wie man was formuliert usw. Wenn sich die Seeheimer treffen, lautet die erste und wichtigste Frage: ‚Wer macht’s?‘«.

Man könnte die O-Töne als unbedeutende biographische Anekdoten abtun, wenn darin nicht das gesamte Elend der SPD-Linken und mit damit nicht auch indirekt das Elend fortschrittlicher Parteipolitik in Deutschland zum Ausdruck käme.

Neben zahlreichen fremdverursachten Schwächen bzw. relativen Stärken der Gegenseite (richtungspolitisch zahme Gewerkschaften, überwältigend dominante und sich inzestuös fortpflanzende neoklassische Volkswirtschaftslehre, wirtschaftspolitisch wenig fortschrittliche Wirtschaftsteile und für deren Deutungen gut zugänglicher Alltagsverstand der Deutschen) scheint aber doch der fehlende Machtwille auf Seiten der politischen Linken eine – zumal selbstverschuldete – Hauptursache für die lange Kanzlerschaft Angela Merkels zu sein.

Obwohl Umfragen und noch tiefergehende Untersuchungen immer wieder die Mehrheitsfähigkeit fortschrittlicher Politik in Deutschland aufzeigten, blieb dieses Potential unverwirklicht. Nicht nur die fremdverschuldete Schwäche der SPD-Linken ist also maßgeblich für diese Entwicklung, sondern auch deren Politik der angezogenen Handbremse innerhalb der Partei, die sie nur sich selbst zuschreiben kann.

Niemals therapierte Ohnmacht

Am deutlichsten wird das, wenn man das Verhalten der SPD-Linken im Ernstfall repräsentativ-demokratischer Politik ins Auge nimmt, also vor, während und nach Wahlen, und es mit der Vorgehensweise der SPD-Rechten (Seeheimer Kreis und andere) vergleicht. Man wird von der Basis bis zur Spitze ein Bild wiederholter und niemals therapierter Ohnmacht vorfinden.

Die politisch gefährlichste Form der Hilflosigkeit ist die Verelendungstheorie – nicht zufällig arbeitet sich Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften immer wieder ab an dem Mantra »es muss schlechter werden, damit es besser werden kann«. Genau dieses begegnete mir in der SPD schon relativ früh, als nämlich Gerhard Schröder seine Agenda 2010-Politik durchsetze. Die SPD-Linke war gespalten, die Aufmüpfigen um Ottmar Schreiner hatten zu keinem Zeitpunkt alle Bataillone der Parteilinken hinter sich. Bar eines wirtschaftspolitischen Gegenkonzepts, gehemmt durch fehlende Konfrontationsbereitschaft und gezügelt von parteisoldatischer Disziplin blieb die SPD-Linke letztlich wirkungslos.

In dieser Zeit hörte ich mehrfach aus eben diesen Kreisen die Klage »Ach, hätten wir nur die Bundestagswahl 2002 verloren« – angesichts eines Bundeskanzlers Edmund Stoiber wäre die SPD schon wieder nach links zurück und hätte sich »richtig« sozialdemokratisch aufgestellt. Das Verheerende an verelendungstheoretischen Szenarien wie diesen ist, dass sie den Anspruch an die eigene Handlungsfähigkeit im Vornherein annullieren. Vielmehr unterstellt man, »die Partei«, vorgestellt als einheitlicher Akteur, werde schon lernen aus ihrer Niederlage, und dann die richtigen (linken!) Schlüsse ziehen. Diese Hoffnung erlaubt einem nicht nur, die Niederlagen besser zu ertragen, sondern vor allem auch die eigene Partei, die schönzureden nach jeder dieser Niederlagen und jedem Rechtsruck für SPD-Linke zunehmend schwieriger wird.

Verschiedene Schlachtordnungen

Diese Situationsdeutung spendet Trost und ist angesichts der vielen Lebenszeit, Energien und oft Selbstachtung, die – zumal linke – Mitglieder für ihre »alte Tante« SPD opfern, auch individuell nachvollziehbar; unterm Strich ist sie aber naiv. Das zeigt vor allem der Vergleich mit dem Verhalten der SPD-Rechten, die weder entsprechende Skrupel vor der frontalen Auseinandersetzung, noch Zurückhaltung in Fragen der innerparteilicher Machtpolitik kennen.

Es entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, wenn man darüber liest, dass vor allem auf Seiten der SPD-Rechten bereits verschiedene Schlachtordnungen für die Zeit nach der Bundestagswahl diskutiert werden, während zeitgleich die Bodentruppen an AktivistInnen sich noch bei Steckaktionen, Infoständen, Plakatierungen und Hausbesuchen abrackern, um Martin Schulz immer wahnwitziger werdende Beschwörungen eines SPD-Wahlsieges wahr werden zu lassen.

Wer jedoch bereits »Kungelrunden«, Hinterzimmergespräche oder »Küchenkabinette« etwa vor Parteitagen miterlebt hat, weiß, dass diese demokratiepolitisch nicht gerade lupenreinen Zirkel aus der politischen Realität kaum wegzudenken sind, auch nicht vor und während Wahlkämpfen. In der SPD jedoch scheint die kalte machtpolitische Kalkulation nur auf einer Seite des innerparteilichen Spektrums vorhanden, nämlich der Rechten.

Martin Schulz angesichts der Umfragen immer abenteuerlicher wirkende Erfolgsbeschwörungen offenbare, so Majid Sattar in der FAZ, »das Interesse der gegenwärtigen Führung – also des Parteivorsitzenden, des Vizekanzlers und des Fraktionsvorsitzenden –, sich irgendwie in die große Koalition zu retten«. Insgeheim hoffe man dort, dass denkbare schwarz-grüne oder Jamaica-Sondierungen scheiterten, weil nur durch Eintritt in einer neuerlich GroKo Personal- und Richtungsdebatten in den eigenen Reihen unterbinden könnten.

In diesem Sinne wird verblüffend nüchtern durchgerechnet: »Die SPD müsste den Widerstand der Funktionäre brechen. Argumente dafür liegen in der Schublade: Neuwahlen müssten unbedingt verhindert werden; diese nutzten doch nur der AfD, die SPD würde weiter verlieren. Das könne doch keiner wollen. Mancher dürfte an Weimar erinnern. Andere daran, dass es Merkels letztes Spiel sei. Diesmal werde also alles ganz anders. Letzteres sagte Gabriel freilich auch schon im Herbst 2013«.

Das gleiche Drehbuch

Wer dieses Szenario für Anschwärzen oder Panikmache hält, sei daran erinnert, dass der Wahlausgang 2009, der der SPD mit nur 23 Prozent das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte beschert hatte, nach ziemlich genau dem gleichen Drehbuch inszeniert wurde. Ausgerechnet der haushohe Wahlverlierer, Gerhard Schröders Vertrauter Frank-Walter Steinmeier wurde ohne jegliche Debatte wieder zum SPD-Fraktionsvorsitzenden gewählt.

Wiederum Majid Sattar bringt die damalige Gefechtslage – und die augenblicklich efolgte Kapitulation der Parteilinken – auf den Punkt: »Später wurden Anwesende häufiger gefragt, wie sie – unter ihnen nicht wenige Kritiker des Kurses Steinmeiers und Franz Münteferings – in dieser Situation hätten klatschen können. Einer der Parteilinken erklärte das später einmal so: «Wir standen alle unter Schock.» Die 23 Prozent seien ein schwerer Schlag gewesen, auch wenn die Erwartungen gering gewesen seien. In dieser Situation habe Steinmeier zugegriffen und so verhindert, dass die SPD, deren Vorsitz in der Folge von Müntefering auf Sigmar Gabriel überging, eine inhaltliche 180-Grad-Wende vollziehen konnte«.

Wenn man die politische Meinungsdifferenz innerhalb der SPD für einen Moment ausblendet, dann kann dieses Verhalten eigentlich nur erstaunen. Wie können ausgerechnet in einer Partei, die nicht erst im diesjährigen Wahlkampf Ungerechtigkeiten auf der Krücke des Leistungsgedankens kritisiert (»Wer als Frau 100 Prozent leistet, darf nicht 21 Prozent weniger verdienen«) und soziale Aufstiegsmöglichkeiten für Leistungswillige in den Mittelpunkt stellt, immer weniger diejenigen mit den wichtigsten Posten und Ämtern belohnt werden, die die entscheidende Aufgabe – nämlich den Wahlsieg einzuholen – gerade nicht geleistet haben?

Das »Wohl der Gesamtpartei«

Das erscheint nicht nur widersprüchlich, sondern zu Ende gedacht auch kaum demokratisch: Wenn die Wahlverlierenden bei Wahlsieg die Zügel in der Hand behalten sollen, weil sie eben Wahlsieger waren und bei Wahlniederlage, weil sie – wie beim oben zitierten Steinmeier – in der Pflicht stünden, die Partei jetzt zu stabilisieren, dann fragt sich doch, unter welchen Umständen sie eigentlich überhaupt bereit wären, das Zepter abzugeben.

Die Antwort liegt darin, dass man von den Meinungsdifferenzen in der Partei eben nicht absehen kann, weil die Durchsetzungswille und -fähigkeit der Richtungen die Entwicklung der Partei erklären. Die SPD-Rechte kennt im Unterschied zur SPD-Linken ihre Prioritäten und ist auch nicht zu schüchtern, sie im Zweifelsfall gegen das durchzusetzen, was der äußere Beobachter als »Wohl der Gesamtpartei« ansehen würde.

Vor zwei Jahren irritierte der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig seine Partei mit dem Vorschlag, auf einen eigenen Kanzlerkandidaten zu verzichten und sich von vornherein mit einer weiteren Amtsperiode von Angela Merkel abzufinden. Was auf den ersten Blick eine als Provokation erscheinen musste, erscheint inzwischen mit jedem hilflosen Angriffsversuch von Martin Schulz als ehrliches Eingeständnis. Man muss der SPD-Rechten inhaltlich nicht zustimmen und kann ihr sicherlich einiges vorwerfen, jedoch – und da unterscheidet sie sich von ihrem parteilinken Gegenstück – der Vorwurf der Inkonsequenz trifft sie nicht.

Denn wenn man die Gerhard Schröders Politik der Agenda 2010 als richtig erachtet, nur teilweise Korrekturen an ihr vorzunehmen bereit ist und findet, der Spielraum für gerechtere Politik heute habe durch die damalige Politik erkauft werden müssen, dann ist es folgerichtig, nicht mit der LINKEN koalieren zu wollen und sich in der Rolle als dauerhafter Juniorpartner der Merkel-CDU ganz gut einrichten zu können. Einen zumindest relativen Wahlsieg der SPD, der einen tatsächlichen Politikwechsel erlaubt, benötigt die Parteilinke viel dringlicher als ihr innerparteilicher Gegner. Deswegen ist es umso verwunderlicher und bedauerlicher, dass ihr die Klarheit und machtpolitische Entschiedenheit der SeeheimerInnen abgeht.

Beruhigende Selbsttäuschung

Gegen diese These erklingen von SPD-Linken und anderen BeobachterInnen früher oder später immer drei mal mehr, mal weniger verschämte Gegenargumente, die sich alle bei näherem Hinsehen als beruhigende Selbsttäuschung erweisen. Ein Argument lautet, man dürfe keinen Grundsatzstreit heraufbeschwören, weil die Wählerinnen und Wähler das an der Urne bestraften. An diesem Einwand ist sogar ein stückweit etwas dran, weil die deutsche Öffentlichkeit in einer demokratiepolitisch sehr bedenklichen Weise mit Missfallen auf innerparteilichen Streit reagiert.

Allerdings wird dieses Argument ebenso wie das damit verwandte, mit einem parteilinken Kanzlerkandidaten (oder Kandidatin) habe die SPD bei einer Bundestagswahl keine Chance, durch die Ergebnisse der letzten zwei und ziemlich sicher auch der diesjährigen Bundestagswahl hinfällig: Trotz fehlenden Streits und weitgehendem Stillhalten der Parteilinken gingen die Wahlen 2009, 2013 und 2017 mehr als deutlich verloren. Schließlich sind trotz des innerparteilichen Waffenstillstands inzwischen auch die landespolitischen Bastionen nicht mehr sicher, wie die verlorenen Wahlkämpfe in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland zeigen.

Der verlorene Einfluss auf die Linkspartei

Vielmehr wird im Rückblick deutlich, wie die SPD-Linke durch ihren Mangel an machtpolitischen Ambitionen die Lage für sich selbst und für fortschrittliche Politik in Deutschland (und wahrscheinlich Europa, denkt man an die Zustimmung der SPD zu Merkels Eurokrisen-Politik) merklich verschlechtert hat. Hätte die SPD-Linke rechtzeitig nach Gründung der LINKEN und deren erstem erfolgreichen Einzug in ein westdeutsches Landesparlament 2007 die Ausgrenzung der neuen Konkurrenz von links durch die ihre Partei verhindert, wären nicht nur Mehrheiten in den Ländern und damit im Bundesrat gegen die Union und FDP möglich geworden.

Vor allem wäre die Auseinandersetzung innerhalb der LINKEN um ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie viel früher nüchterner und realitätstauglicher geworden. Denn eine Offenheit der SPD gegenüber der LINKEN hätte den öffentlichen Rechtfertigungszwang für die eigene Position quasi um 180 Grad gedreht: Nun hätte sich nicht mehr die SPD dafür verteidigen müssen, warum sie auf die Staatskanzlei verzichtet und/oder auf die einzige Option, originär sozialdemokratische Forderungen auch umzusetzen, sondern DIE LINKE hätte begründen müssen, warum sie nicht mit einer SPD regieren möchte, die ihr die Hand reicht – womit die gesamte politischen Entwicklung innerhalb der LINKEN eine andere Richtung genommen hätte und ziemlich sicher so mancher Lernprozess beschleunigt worden wäre, dem sich die Partei bisweilen noch heute verweigert.

Dass die SPD sich dann in der Öffentlichkeit antikommunistischem Beschuss aus dem bürgerlichen Lager und der Presse ausgesetzt gesehen hätte, ist dagegen kein starkes Argument – denn so verfuhr die Union ohnehin. So plakatierte die CDU 2008 in Hessen: »Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!« – obwohl genannte SPD-Kandidatin gebetsmühlenartig jede Zusammenarbeit mit der LINKEN ausgeschlossen hatte, mit den bekannten fatalen Folgen.

Kontinuierliche »Geländeverluste« in der SPD

Nicht nur für die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien, auch innerparteilich sollte sich die machtpolitische Verlegenheit der SPD-Linken rächen. Je länger sie mit einer organisierten Offensive wartete, desto schlechter wurde ihre Position einfach durch kontinuierliche »Geländeverluste« in der SPD. Zum einen vergaßen manche ehemalige Parteilinke ihre linke Position immer rechtzeitig, um ihrer Karriere nicht zu gefährden.

Zum anderen wurden Leute neu in die real existierende SPD rekrutiert, denen man ob ihrer Positionen keinen Opportunismus vorwerfen kann, sondern die eben diese, von der SPD aktuell vertretene Mischung aus Linksliberalismus und wettbewerbsstaatlich zurechtgestutztem Sozialreformismus ziemlich gut finden. Das ist so legitim, wie es aus Sicht der Parteilinken ärgerlich erscheinen muss.

Diese Neuzugänge werden in eine SPD aufgenommen, die sich durch die Politik der Agenda 2010 mehrfach gehäutet hat, und sie gehören zu politischen Generationen, die mit in erheblicher Anzahl nie nennenswert mit einer linken politischen Ökonomie vertraut gemacht worden sind, deswegen nur den ökonomischen Mainstream kennen (so sie sich denn überhaupt für Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik interessieren) und gegen diesen auch nicht kompetent argumentieren könnten, selbst wenn sie wollten. Es sind die Kohorten, die in den sozialökonomischen Rechtsruck seit 1989 von vornherein hineinsozialisiert worden sind. Sollen sie für die innerparteiliche linke Sache gewonnen werden, muss man sie erst aufwendig überzeugen und schulen, und sie müssten dann vor allem akzeptieren, die politisch bald schizophrene Kluft zwischen linkssozialdemokratischen Überzeugungen und großkoalitionärer Realität auszuhalten, ohne darüber auf Dauer ihre Motivation zu verlieren.

Nicht einfacher dürfte es für die SPD-Linke dadurch werden, dass diesmal die Umstände durchaus zugunsten von Seeheimer Kreis und anderen Parteirechten arbeiten. Nicht nur sind durch wahlpolitische Erfolge der AfD die vormals wiederholt gegebenen, aber nie genutzten rot-rot-grünen Mehrheiten auf Landes- und Bundesebene mittelfristig perdu, sondern es gilt auch für die nächste Bundestagswahl: Dieses Mal ist es wirklich anders – aber eben nicht im Sinne der sozialdemokratischen Linken!

Weil Angela Merkel nicht noch ein fünftes Mal für die CDU ins Rennen gehen und die Union voraussichtlich schwächer dastehen wird, sind die Erfolgschancen der SPD bei der Bundestagswahl 2021 absehbar besser, ganz gleich wie sie sich aufstellt – zumal die Leute dann auch ohne große sozialdemokratische Affinität aus unpolitisch motivierter Wechselstimmung für die SPD stimmen können (»jetzt sollen auch mal die anderen dran!«). Aber das wissen auch die SeeheimerInnen und ihre innerparteilichen Verbündeten. Daher wird die SPD-Rechte alles daran setzen, nicht den Führungsanspruch über die SPD abzutreten.

Das Zeitfenster für die SPD-Linke, diesmal – zum ersten Mal seit langem – das Ruder in die Hand zu bekommen, schließt sich vermutlich definitiv beim regulären Parteitag Ende 2019, bei dem der Parteivorstand gewählt wird. Umso dringender ist es, dass linke SozialdemokratInnen den Fuß von der Bremse nehmen und das herrschende Paradigma in der SPD offen und offensiv in Frage stellen, das da lautet, die Politik der vergangenen Jahre sei eigentlich ja richtig, bedürfe aber einiger Korrekturen.

Eine wichtige Rolle könnten dabei die der Sozialdemokratie nahestehenden fortschrittlichen Intellektuellen spielen, wenn sie sich endlich ihre Hände der Politik schmutzig zu machen wagten. Es ist schön, gut, richtig und notwendig, Bücher und Artikel zu schreiben, Vorträge zu halten usw., in denen eine »richtige« sozialdemokratische Politik ausgemalt wird, die diesen Namen auch verdient, aber hinreichend ist es nicht.

Daher bringt es wenig, wenn nicht die real existierende SPD-Politik in der machtpolitischen Höhle des Löwen mit ihrer fortschrittlichen Alternative konfrontiert wird. Von der »hier stehe ich, ich kann nicht anders«-Gesinnungsethik eines Norbert Blüm, der tapfer fast im Alleingang auf dem legendären Leipziger CDU-Parteitag 2003 gegen Angela Merkels radikal neoliberales Programm kämpfte, könnten sich die sozialdemokratischen Intellektuellen aus Wissenschaft, Kultur und Gewerkschaften mehr als nur eine Scheibe abschneiden.

Die SPD-Linke sollte sich bei ihren innerparteilichen KontrahentInnen den Machtwillen und auch die machiavellistische Rücksichtslosigkeit abschauen, mit der diese erfolgreich ihre Bastionen verteidigt hat. In der schlechten Wirklichkeit der Politik, wusste Machiavelli, muss der Fürst Löwe und Fuchs zugleich sein, d.h. sich auf Zustimmung ebenso wie auf Zwang stützen. Nur eine mehrheitlich links geführte SPD wird auch ein fortschrittliches Programm umsetzen.

Die Auseinandersetzung darum findet nicht nur auf Parteitagen, nicht nur an publikumswirksamen Kristallisationspunkten statt, sondern »molekular« nahezu andauernd, nicht nur bei Programmdebatten, sondern mindestens ebenso bei Personalentscheidungen um GeschäftsführerInnen, Ratsmandate, OberbürgermeisterInnen, MinisterpräsidentInnen und Schattenkabinette.

Denn aus deren Reihen müssten sich wichtige ProtagonistInnen eines linken Politikwechsels in Deutschland rekrutieren. Sein Stück »Der gute Mensch von Sezuan« über eine schlechte Wirklichkeit, die die Menschen zwingt, sich ebenso schlecht zu verhalten, schließt Bertolt Brecht mit einem Appell ans Publikum, der nicht weniger an die SPD-Linke gerichtet werden könnte:

»Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!«

Alban Werner ist 1982 in Aachen geboren und war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen aktiv. Der Politikwissenschaftler schreibt u. a. in »Sozialismus« und »Das Argument«.

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