Fingerfood

Täglich Horror, hält man das aus? Ein Selbstversuch

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich sitze im Kino. Es handelt sich um einen Langzeitselbstversuch: Kann man in zwölf Tagen 58 eher drastische, teils ins Experimentell-Surreale lappende Horror-Thriller sehen, ohne bleibende Schäden davonzutragen? Oder besser: Kann man auf diese Weise etwas lernen oder erfahren über die Welt, in der wir leben müssen?

Seit mehreren Tagen geht das schon so: 10.30 Uhr aufstehen, Lunchbox zurechtmachen, zwei wiederverschließbare Getränkeflaschen einpacken, 12.30 Uhr U-Bahn, 13.30 Uhr erster Film (Programmheft: »Es wird gekotzt, gewichst und geblutet, was die Schläuche hergeben«), dann zweiter Film (»ein grauenvoller Verdacht: Jeder, der sich ihm nähert, fällt tot um«), dritter Film (»die Kettensäge locker über der Schulter hängend, schießen und schlagen sie sich durch die Spreemetropole«), vierter Film (im Programmheft ist die Rede von mehreren »Ohnmachtsanfällen«, die es bei der Vorführung des Films auf bisherigen Festivals im Publikum gegeben habe), 23 Uhr fünfter Film (»literweise Körpersekrete, akustikstarke Flatulenzen«), 1 Uhr Nachtbus, 1.45 Uhr zu Hause, 2.15 Uhr den Abend ausklingen lassen bei sanften Entspannungsübungen, unverkrampftem Nachdenken und maßvollem Genuss alkoholischer Getränke, 3.30 Uhr Bett.

Vierter Tag, spätnachmittags: Ich sehe einer Frau in der Sitzreihe vor mir zu, wie sie seelenruhig eine Plastikbox öffnet, etwas fleischfarbenes Längliches herausnimmt und genüsslich daran zu knabbern beginnt, was ein unangenehmes knacksendes Geräusch verursacht. Knacks! Es ist nicht zu übersehen, dass es sich bei dem Ding, von dem sie abbeißt, um einen menschlichen Finger handelt. Ein Finger! Ich sitze sekundenlang erstarrt da, kann meinen Blick nicht abwenden. Knurps! Der Finger muss überaus fachmännisch mit Präzisionswerkzeug von der Hand, an der er sich gewiss einmal befand, entfernt worden sein, die Schnittfläche am Fingeransatz wenigstens ist erkennbar glatt.

Um Gottes Willen, ist denn das, was da vor aller Augen vor sich geht, dem glatzköpfigen Freund der Frau, der neben ihr sitzt, völlig gleichgültig? Er scheint am Verzehr eines abgetrennten Fingers nicht nur keinerlei Anstoß zu nehmen, er nickt seiner Sitznachbarin sogar noch ermunternd zu! Herrgott, warum sagt denn niemand etwas?

Sich tagelang am Stück jeweils vier bis fünf Filme anzusehen, in denen die diversen Abgründe und die verstecktesten Winkel der menschlichen Psyche ausgeleuchtet werden, macht zweifelsohne etwas mit einem, ja, drei Tage Fantasy Filmfest gehen nicht spurlos an einem vorüber: Erst beim dritten Blick auf die vor mir schmatzend einen Finger verspachtelnde Dame erkenne ich, dass es sich - knacks, knurps - nicht um einen Finger, sondern um ein Stück Karotte handelt.

Nun ja. Die Sinne des Zuschauers sind nun einmal getrübt, wenn soeben noch eine französisch-belgische Koproduktion (»Raw«) gezeigt wurde, in der es darum geht, dass eine Vegetarierin infolge diverser traumatischer Erlebnisse plötzlich die Obsession entwickelt, rohes Fleisch zu verzehren und sich unversehens zur Kannibalin entwickelt, die eines Morgens überraschend ihren nur halb aufgegessenen Mitbewohner neben sich im Bett findet.

Doch kommen wir noch mal kurz zurück zu den Zuschauern um mich herum. Es handelt sich unverkennbar um eine bestimmte Spezies Nerd. Männer sind im Publikum eindeutig in der Überzahl und lassen sich grob aufteilen in zwei Sorten: den bärtigen Tätowierten mit Satan-T-Shirt und den im Körper eines 40-Jährigen gefangenen Zwölfjährigen, dem die Mutter bis heute die Garderobe und den Friseur aussucht. Zum Thema Frauen (im Pu᠆blikum und auf der Leinwand) lesen Sie dann mehr in der nächsten Kolumne.

Fantasy Filmfest, Cinestar im Sony-Center, Potsdamer Straße 4, Mitte, täglich noch bis zum 24. September

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