Die Krankheit ist nicht der Mensch

Viele Menschen wissen zu wenig über Epilepsie - auch Betroffene werden oft allein gelassen

  • Gisela Gross
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie eine Hand im Körper, die vom Bauch aus nach dem Herzen greift. Sybille Burmeister aus Ludwigshafen verdreht ihren Arm vor der Brust, um zu zeigen, wie sich das merkwürdige Klopfen in der Herzgegend anfühlte, das sie seit der Jugend immer wieder hatte. Hinzu kamen Schwindel und ein Summen im Ohr. Unheimlich und lästig war das, wie sie sagt, an ihrem Herzen aber entdeckte kein Arzt je etwas Ungewöhnliches. Dann kam ein Tag im Jahr 2006, Burmeister war 35, als sie auf dem Balkon das Bewusstsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Gästezimmer, blutete aus dem Mund, hatte ein »Veilchen« am Auge und Schmerzen überall. Nach Besuchen beim Hausarzt, einer Klinik und schließlich beim Neurologen fand sich die Antwort: ein epileptischer Anfall. Burmeister bekam ein Medikament, mit dem auch das gefühlte Herzrasen seltener wurde. Offenbar hatte sie seit dem Alter von 15 Jahren immer mal wieder kleine Anfälle gehabt.

Doch sind es die großen sogenannten generalisierten Anfälle, wie Burmeister einen auf dem Balkon erlebte, die typischerweise mit Epilepsie in Verbindung gebracht werden: Der Betroffene stürzt zu Boden, zuckt, wird bewusstlos. Im Gehirn entladen sich dabei durch eine Störung im zentralen Nervensystem viele Nervenzellen gleichzeitig. Aber das Spektrum der Anfallsformen ist breiter. Teils betreffen sie nur einen Teil des Gehirns und ziehen nicht immer einen körperlichen Zusammenbruch nach sich.

Ursache für eine Epilepsie können angeborene oder erworbene Hirnschäden sein. Oft ist der Grund unbekannt. Voraussetzung für die Diagnose ist, dass mehrfach spontan Anfälle auftreten. Wenn Ärzte eine Stelle im Gehirn finden, von der diese ausgehen, sind unter bestimmten Bedingungen auch Operationen möglich - bei etwa fünf Prozent der Erkrankten, sagt der Medizinsoziologe Norbert van Kampen vom Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg. Sehr klein ist auch der Anteil jener, bei denen Anfälle durch optische Reize wie flackerndes Licht ausgelöst werden.

Für Burmeister kam die Diagnose aus dem Nichts. Sie ist eine von rund 500 000 Betroffenen bundesweit. Die Journalistin fühlte sich mit der Erkrankung völlig alleingelassen, Depressionen bis hin zum Burn-out waren die Folge. Immer noch schwebe gefühlt ein Damoklesschwert über ihr, sagt Burmeister. Sie müsse auf relativ viele Dinge achten, sei lebenslang auf Medikamente angewiesen und dürfe nach einem großen Anfall stets ein Jahr nicht Auto fahren.

Aber ihr Fazit ist dennoch: »Wenn man in guter Behandlung ist, kann man mit dieser Krankheit ziemlich normal leben.« Als Vorstandsmitglied und Sprecherin der Deutschen Epilepsievereinigung setzt sich Burmeister für Aufklärung über die Erkrankung ein, hat eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen und will gegen Vorurteile ankämpfen. »Mir ist wichtig, dass dieses Stigma, das noch mit der Krankheit verbunden ist, einmal überwunden sein wird.«

Denn Burmeister hat verletzende Reaktionen erlebt. Manche wichen ein Stück zurück, als sei sie ansteckend. Ihr Eindruck: »Manche denken, dass man zwangsläufig geistig ein bisschen minderbemittelt ist.« Andere zeigten Erstaunen, dass man ihr nichts ansehe. »Aber was soll man mir denn auch ansehen?«, fragt sich Burmeister. Nicht nur für sie selbst habe der Begriff Epileptiker einen negativen Beigeschmack, weil die Krankheit mit dem Menschen gleichgesetzt werde.

Befragungen zeigen, dass sich die Wahrnehmung in den vergangenen Jahren verändert hat - weniger Menschen halten Epilepsie für eine geistige Behinderung als vor 20 Jahren. Van Kampens Erfahrung zeigt aber, dass es beruflich für manche das Aus bedeuten würde, wenn sie darüber sprächen. Einige erzählten nicht einmal dem Partner von der Diagnose.

Mit falschen Vorstellungen konfrontiert werde man häufig, sagt Stefan Conrad, der in der Jugend etwa zweimal jährlich große Anfälle hatte. Für Außenstehende überraschend sei etwa, dass sich Betroffene im Alltag nicht dauernd einschränken müssten und dass viele oft über lange Phasen anfallsfrei sind - in Conrads Fall sind es zwölf Jahre. Bevor Medikamente ihm halfen, hatte er Anfälle nach dem Aufstehen, die sich mit Zucken in Arm oder Bein ankündigten. So konnte er sich oft rechtzeitig hinlegen.

Das Motto des Epilepsie-Tages am 5. Oktober - »Epilepsie ist gut behandelbar - wie lange noch?« - ist aus Sorge von Patienten entstanden, dass falsche politische Weichenstellungen die Zulassung und damit den Zugang zu neuen Epilepsie-Medikamenten erschweren könnten.

Daneben ist für die Betroffenen wie van Kampen klar, dass es mehr spezialisierte Beratungsstellen geben müsste, um Menschen nach einer Diagnose sozial und medizinisch aufzufangen. Der Weg zum Epileptologen und zu Spezialzentren sei noch nicht an der Tagesordnung. Van Kampen sagt: »Es gibt Betroffene, die leben seit 20 Jahren mit Epilepsie und haben keine Vorstellung davon, was sie da eigentlich haben.« Kein Patient und keine Epilepsie sei wie die andere, betont Burmeister. »Das macht die medikamentöse Behandlung so schwer.« dpa/nd

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