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Pflege gerät wieder ins Fadenkreuz
Das Pflegebudget sollte Fehler der Fallpauschalen korrigieren, jetzt gibt es wieder Sparansätze
Spätestens seit der Pandemie dürften es alle wissen: in den Krankenhäusern gibt es einen Pflegenotstand. Das Problem existiert aber nicht erst seit 2020, sondern schwelt schon länger. Dagegen haben sich Belegschaften an mehreren Kliniken bundesweit mit Kämpfen für Entlastungstarifverträge mehr oder weniger erfolgreich gewehrt.
Seit 1995 gab es bei der absoluten Zahl der Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern verschiedene Trends. Zunächst sankt ihre Zahl von 351 000 1995 auf 298 000 im Jahr 2007. Dann wuchs sie wieder an, mit einem deutlichen Sprung 2018. 2023 gab es dann 391000 Vollzeitkräfte (als Messgröße) in der Krankenhauspflege. Die Fallzahlen stiegen, mit einer leichten Delle 2005, von 16,8 Millionen 1998 auf 19,4 Millionen 2019. Seit 2020, also mit Beginn der Pandemie, sank die Zahl der stationär behandelten Fälle auf ein Plateau von etwa 17 Millionen, das sich relativ stabil hält. Eine der Ursachen könnte sein, dass etliche Untersuchungen und Eingriffe zunehmend ambulant erfolgen, darunter die Versorgung von Brustkrebs oder Leistenbrüchen.
Einfluss auf das Absinken der Zahl der Pflegekräfte hatte auf jeden Fall die Einführung der Fallpauschalen (DRG) ab 2003, mit denen Festpreise für stationäre medizinische Leistungen eingeführt wurden. Die Krankenhäuser wurden mit den Pauschalen in die Richtung gedrängt, möglichst viele Fälle abzurechnen, bei den Kosten aber zu sparen. Das war offenbar am einfachsten beim Pflegepersonal möglich. Dazu passt, dass die Zahl der ärztlichen Vollzeitstellen seit 1995 kontinuierlich anstieg von 101 000 auf 177 000 im Jahr 2023.
»Faire Löhne und mehr Personal sind kein Luxus.«
Christine Vogler Deutscher Pflegerat
Zu erklären wäre noch der plötzliche Anstieg bei der Zahl der Pflegekräfte ab 2018. Ende 2018 wurde die Rückkehr der Selbstkostendeckung bei Pflegeleistungen beschlossen, in Kraft trat das 2020. Diese Kosten wurden – angesichts der Pflegekrise und der Kämpfe um Entlastungstarifverträge – aus den Fallpauschalen herausgelöst. Die Krankenhäuser konnten nun Personal nach Bedarf einstellen (allerdings nur für die sogenannte »Pflege am Bett«) und bei den Krankenkassen abrechnen.
Auf dieses Pflegebudget, so die Anregung auch des Ökonomen Boris Augurzky, der alljährlich den Krankenhaus-Rating-Report mit herausgibt, sollte man bald möglichst wieder verzichten. Es habe seine Aufgabe erfüllt, an den Krankenhäusern habe es einen Personalaufwuchs gegeben, die Pflegekosten seien von 14,6 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf 22 Milliarden Euro 2024 gestiegen.
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Der Krankenhaus-Rating-Report verfolgt einen rein betriebswirtschaftlichen Ansatz. In Bezug auf die insgesamt gestiegene Zahl der Vollzeikräfte in Krankenhäusern im Vergleich der Jahre 2019 und 2023 und den niedrigen Fallzahlen im Gegensatz dazu wird konstatiert, dass die Produktivität »deutlich gesunken« sei. Die Zahl der Pflegekräfte sei in den fünf Jahren sogar um 13,5 Prozent angestiegen, führt der aktuelle Report an. Die Kategorie der Produktivität ist etwa aus Sicht der Patienten zumindest zweifelhaft, ebenso aus Sicht von Medizin und Pflegewissenschaft.
Der Begriff suggeriert, dass Krankenhausfälle normiert sind. Das können sie, wenn überhaupt, nur in begrenztem Maße sein. Ein Herzinfarkt ist nicht bei jedem Menschen nur ein Herzinfarkt. Je älter Patienten sind, um so mehr Erkrankungen bringen sie zusätzlich mit, etwa Diabetes, eine Nierenleiden oder Demenz. Der medizinische und pflegerische Aufwand kann also sehr unterschiedlich ausfallen, was sich schon in der Kategorie des Casemix widerspiegelt. Damit wird die unterschiedliche Fallschwere innerhalb des Fallpauschalensystems erfasst.
Mit der aktuellen Krankenhausreform soll aber der Mechanismus der Fallpauschalen abgeschwächt und durch Vorhaltepauschalen ergänzt werden. Bislang ist der Versuch aber halbherzig, weil die Vorhaltepauschalen wiederum auf früheren Fallzahlen aufsetzen.
Hinzu kommt, dass für die neuen Leistungsgruppen, nach denen Krankenhäuser bald abrechnen sollen, auch das Kriterium einer bestimmten Personaldecke festgesetzt wurde. Der Fokus liegt hier noch auf den Fachärzten, die täglich bereitstehen müssen, damit die Leistungsgruppe überhaupt vergütet werden darf.
Wenn nun die Fallpauschalen tatsächlich an Einfluß verlieren sollen, ist es fraglich, warum der Pflegeaufwand wieder innerhalb dieses gescheiterten Systems abgebildet werden soll. Und es bleibt offen, wie dann verhindert werden kann, dass die Pflegekosten erneut dafür hergenommen werden, betriebswirtschaftliche Probleme der Krankenhäuser zu dämpfen.
Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, sehen viele Kritiker darin, eine realistische Personalbemessung als Grundlage für den Pflegeaufwand zu etablieren. Die Krankenhäuser sind in den nächsten Jahren damit konfrontiert, die unterschiedlichen Regelungen unter einen Hut zu bringen. Ihr Interesse ist es, wie auch mehrfach seitens der Deutschen Krankenhausgesellschaft geäußert, Pflegekräfte intern möglichst nach eigenen Vorstellungen einzusetzen – ohne Kontrolle auf Einhaltung von Personalschlüsseln und ähnlichen Vorgaben.
Das widerspricht nicht nur den Interessen der Beschäftigten. Auch Patienten wollen sicher nicht von maximal flexiblen Fachkräften gepflegt werden, die zwischen den Stationen wie Schachfiguren hin- und hergeschoben werden und Spezialkenntnisse unter solchen Umständen weder vertiefen noch sich überhaupt aneignen können.
Kritik an Plänen, das Budget wieder abzuschaffen, kommt unter anderem vom Deutschen Pflegerat. Der Anstieg der Pflegeausgaben sei kein Fehler, »sondern Ausdruck einer über Jahrezehnte aufgeschobenen Anpassung«, so Pflegerats-Präsidentin Christine Vogler. »Faire Löhne und mehr Personal sind kein Luxus«, sie seien notwendig, um Pflegeberufe attraktiv zu machen und die Versorgung zu sichern, meint Vogler. Wenn es trotz Budget Probleme bei der Einhaltung von Peronalmindeststandards gebe, sei die Ursache dafür unter anderem das fehlende qualifizierte Personal auf dem Arbeitsmarkt.
Die bisherigen Versuche, mit möglichst wenig Personal möglichst viel Leistung zu erzeugen, führten zu Abwanderung aus dem Beruf. »Pflege auf Verschleiß«, nennt das Vogler. Eine Befragung von Teilzeitpflegekräften und Berufsaussteigern zeigte 2024, dass unter anderem verlässliche Arbeitszeiten und eine bedarfsgerechte Personalbemessung diese Beschäftigten zu Arbeitszeitaufstockung oder Berufsrückkehr bewegen könnten.
Auch der Verein demokratischer Ärzt*innen (VdÄÄ) hält eine Abschaffung des Pflegebudgets für fatal und schlägt stattdessen eine radikale Gegenbewegung vor: »Ein sinnvoller Schritt wäre, das gesamte Personal in Krankenhäusern nach dem Selbstkostendeckungsprinzip zu finanzieren«, sagt Peter Hoffmann, Krankenhausarzt und Vdää-Vorstandsmitglied.. »Das wäre sachgerecht und würde den Kostenduck vom Personal nehmen. Außerdem könnten so keine Profite mehr mit Personal gemacht werden«.
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