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Die Demokratie in Europa ist in Gefahr

Der Konflikt um Katalonien ist Symptom einer tiefen Krise. Plädoyer für eine progressive »dritte Option«

  • Katja Kipping und Nicola Fratoianni (Gastbeitrag)
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesen Stunden schaut Europa mit gemischten Gefühlen nach Katalonien. Wir sind sehr besorgt, dass die spanische Regierung die Situation eskalieren lässt. Polizeiliche Repressionen und Gewalt sind niemals die Lösung für einen politischen Konflikt, ganz unabhängig von der Einschätzung der Rechtslage. Doch durch sie ist der Konflikt unweigerlich zu mehr geworden als nur »einer inneren Angelegenheit Spaniens«, wie der Präsident der EU-Kommission Juncker nicht müde wird zu behaupten. Wir sind stattdessen überzeugt, dass es hier um Europa und die Europäische Union als Ganzes geht. Dies gilt umso mehr, da europäische Institutionen in den vergangenen Jahren mit der berüchtigten Troika-Politik einer ganzen Reihe von europäischen Ländern ihre Sparpolitik aufgezwungen haben. Interventionen in die »inneren Angelegenheiten« einzelner Mitgliedsländer sind insofern keine Ausnahmen, sondern eher eine Frage des Interesses, wie der soziale Albtraum der griechischen Krise anschaulich zeigt.

Eine politische Initiative der Europäischen Union könnte jetzt zusammen mit anderen neutralen Verhandlungsführern eine positive Vermittlerrolle spielen. Denn wir benötigen eine sofortige Wiederaufnahme des Dialogs mit allen beteiligten Akteuren und lösungsorientierte Verhandlungen.

Aber die jüngsten Entwicklungen der katalanischen Krise sind trotz der historischen Besonderheiten dieses Konflikts nur das Symptom einer tieferen Regression Europas: einer Krise der Demokratie in den etablierten Staatsformen, wie sie uns bislang geläufig waren. Die Bilder vom letzten Sonntag zeigten Zehntausende von Menschen, Frauen und Männer, Jung und Alt, die sich dem Druck der Gewalt mit zivilem Ungehorsam widersetzten. Die sich das Recht, ihre Meinung zu äußern, das Recht, frei zu entscheiden und über ihre Zukunft zu bestimmen, mit Protesten erkämpften. Hier wurde ein starkes Bedürfnis nach Demokratie und Selbstbestimmung deutlich, das weit über die klassische Definition von nationaler Unabhängigkeit hinausgeht.

Angesichts der zunehmenden Gewalt des ökonomischen Globalisierungsprozesses, des katastrophalen Ausmaßes der ökologischen Krise, des exponentiellen Wachstums sozialer Ungleichheit, hat die klassische Nationalstaaten-Politik schon seit mindestens zwei Jahrzehnten ihre Unzulänglichkeit unter Beweis gestellt. Sie ist nicht mehr in der Lage, Antworten auf die neuen Herausforderungen unserer Zeit zu liefern. Zehn Jahre Wirtschaftskrise in Spanien und anderen Teilen Europas, haben diese Krisen verschärft. Und wenn schon die repräsentative Demokratie nicht in der Lage war, dem Finanzkapitalismus her zu werden, so ist wird das eine Neuauflage der Nationalstaaten in der vervielfachten Form der »Kleinen Vaterländer« sicher nicht leisten können.

Wir glauben daher, dass es in der katalanischen Krise falsch wäre, zwischen einer autoritären Verteidigung des zentralisierten, spanischen Staates und der unilateralen Proklamation der Unabhängigkeit eines katalonischen Staates entscheiden zu müssen. Gleichzeitig glauben wir aber, dass die katalonische Bevölkerung in der Lage sein sollte, über ihr Schicksal auf demokratische Weise - und unter Berücksichtigung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dort - zu entscheiden.

Auf lange Sicht brauchen wir daher eine dritte Option, einen Ansatz, der radikal anders ist - der ausgeht vom Prinzip der »Nähe« als dem Ort politischer Entscheidungsfindung. Der Ort der Entscheidungsfindung sollte so nah wie möglich an die Bürgerinnen und Bürger und ihre Gemeinden gebracht werden, ausgehend vom Grundsatz eigenständiger Verwaltungen, wie er bereits in transnationalen Kooperationen von europäischen Großstädten besteht. In diesem Sinne gewissermaßen autonome und selbständige Regionen könnten dann im größeren Maßstab, über die traditionellen Nationalstaatengrenzen hinaus und jenseits eines nationalistischen Chauvinismus, in einer erneuerten föderalen Union der Koexistenz und des Teilens begründet werden. Die katalanische Krise sollten wir deswegen als Gelegenheit begreifen, endlich eine transnationale Debatte über die Demokratie in Europa zu eröffnen.

Wir können das Europa der Zukunft und einen dazugehörigen, konstituierenden Prozess definieren, der den neuen Herausforderungen und Risiken adäquat begegnet. Aber um dies zu tun, ist es jetzt entscheidend, dass wir den Weg - den die kommunalen Vereinigungen und die Linke in Spanien und Katalonien mit so viel Mut und Klarheit beschreiten - gemeinsam gehen. Mit Ada Colau und Pablo Iglesias, mit Manuela Carmena und Alberto Garzon an der Spitze, ist nun die Zeit gekommen, um Repression und unilaterale Aktionen zu beenden. Es ist an der Zeit, einen Dialog für die Koexistenz zu beginnen. Eine friedliche Lösung ist immer noch möglich.

Es ist Zeit für eine laute europäische Stimme und eine entsprechende Mobilisierung, um den Geist der Saragossa Deklaration zu unterstützen. Wir bieten dabei unsere Hilfe an - wir und viele andere. Denn die republikanischen Werte und Bürger*innenrechte der Europäischen Union sind in Gefahr. In diesen Tagen wird in Spanien wie in Katalonien auch über die Zukunft der Demokratie in Europa entschieden.

Katja Kipping ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE. Nicola Fratoianni ist 1. Sekretär der Partei Sinistra Italiana. Dieser Beitrag erscheint auch in »Il Manifesto« und »El Dario«.

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