Syrienschauen

Martin Leidenfrost über seinen Triathlon auf Zypern, die mittwochs präsente UNO und das Leuchten einer Art von Abendrot

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich hatte diese fixe Idee, seit mir einige Zyprioten erzählt hatten, dass man von jenem offiziell zur EU gehörenden Punkt nach Syrien hinübersieht. Ich fuhr daher auf die Halbinsel Karpas hinaus, auf den 80 Kilometer langen, gegen Osten ausgestreckten Finger Zyperns.

Im letzten Dorf stieg ich ab. Dipkarpaz, auf Griechisch Rizokarpaso, war ein von anatolischen Zuzüglern geprägtes Schmutzbeton-Ensemble. Ein schlachtvergnügtes Reiterstandbild von Atatürk, gegenüber vier ungemütliche Teehäuser, in denen nur Männer ein Steckteilespiel namens »OK« oder Karten spielten.

Dies war auch der letzte Ort der »Türkischen Republik Nordzypern«, in der noch Griechen leben. Ich ging ins griechische, von einem Säulengang umgebene Café. Ich hätte gerne gesehen, wie die UNO den früher hier isolierten Griechen immer noch Lebensmittel ins Café bringt. Die UNO kommt aber mittwochs, verriet mir der einsilbige griechische Küster, der stets mit misstrauischem Blick im Restaurant zu Abend aß: »Sie bringen uns alles, Tomaten, Bohnen, Fleisch.« Ich verpasste die UNO. Das Café war ein nostalgischer Saustall. Ein alter Gast, ein aus Korfu heimgekehrter Gastarbeiter, machte mir einen »griechischen Kaffee«. Einige Fotos an der Wand, Zypern vor der Teilung. An den fünf noch nicht abgebrochenen Wandkleiderhaken hingen kleine Ikonen.

Ich ging in die griechische Schule. Ein hoher Altbau, ein Fußballplatz mit Kunstrasen und Flutlichtanlage, Partylaune. Acht Kinder gingen in den Kindergarten, 15 in die Grundschule, und die zwei örtlichen Lehrerinnen waren heiße duftende Gruftis. Die junge Direktorin und eine junge Lehrerin hatten schwarz lackierte Fingernägel, zweitere mit blitzenden Silberschlangen drauf. Sexualisiert war auch die Kinderkunst in der Aula: kubistisch ineinander verschnittene Porträts von Dekolleté-Frauen, in ein Bild des Klosters »Apostolos Andreas« war eine Minirock-Braut eingeklebt. Die Schule wird von der Republik Zypern finanziert, und auch die Eltern werden bezahlt, mit 300 Euro pro Schulkind. Grieche zu sein, das reicht hier fast schon zum Leben.

Ich brach mit einem geliehenen Fahrrad zum Syrienschauen auf. Es hatte 21 Gänge, doch ging es im 16. Gang immer zu leicht, im 17. immer zu schwer. Auch waren die Reifen viel zu dick. Es folgte eine elende Treterei über Serpentinen, in denen ich manchmal absteigen musste. Ich konnte mich nur mit dem Gedanken motivieren, bei der nächsten Bucht ins Meer zu springen und geschlagen umzukehren. Im einzigen geöffneten Lokal hielt ich Rast als einziger Gast. Dort jobbten gestrandete Studierende, eine Südafrikanerin und ein Nigerianer. Letzterer bestätigte mir begeistert, dass Syrien vom Kloster Apostolos Andreas aus zu sehen sei: »Man muss nur ein Stück den Hang hochklettern.«

Ich fuhr weiter, schwamm eine Runde am »Golden Beach«. Dort planschten auch zwei reife Paare aus Deutschland. Einer der gesichtshageren Herren hatte nie davon gehört, dass man Syrien sieht: »Nein, deswegen sind wir nicht gekommen.« Wieder auf dem Rad, wunderte ich mich, dass ich die wilden Esel nicht sah, die laut einem zyprischen Patrioten »das einzige wirklich Einzigartige an Zypern« seien. Ich sollte sie erst bei der Rückfahrt sehen, vom Pritschenwagen eines Bauarbeiters aus, in der Abenddämmerung. Die Esel standen in Schwärmen herum und weideten still.

Noch eine Kurve und noch der verrostete Checkpoint eines Schutzgebiets für Brutvögel, und dann sah ich schon fast die Stelle, an der angeblich einst der Apostel Andreas gelandet war. Ein herrlich gelegenes Aussichtsrestaurant namens »Wiev«, »24 hours open« und für immer geschlossen.

Ich betrat die Klosterkirche. Hinter der prächtigen Ikonostase sagte eine Männerstimme: »Kyrie Eleison!« Ich gab flüsternd zurück: »Christe Eleison!« Später kamen der Pope und seine Frau heraus, ein knurriges altes Ehepaar, und lasen und sangen abwechselnd auf Griechisch.

Ich trat hinaus. Der Hang hinter dem Kloster, von dichter Macchia überwuchert, stieg sehr flach an. Am Ende meines Triathlons wurde ich gewahr, dass keiner meiner Gewährsleute behauptet hatte, Syrien mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ein Andenkenverkäufer, der dort seit 15 Jahren einen Stand führte, erklärte das für ausgeschlossen: »Man sieht manchmal türkische Berge.« Ich schaute Syrien also nicht. Im Osten, wo man es vermuten durfte, leuchtete eine Art von Abendrot.

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