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Anna, Maria, Jelisaweta, Nadeschda, Inessa und Alexandra

Victor Sebestyen erinnert in seiner Lenin-Biografie auch an die mutigen Frauen an der Seite des russischen Revolutionärs - und an Putins Großvater

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 4 Min.

Das englische Original erschien Anfang des Jahres in London unter dem Titel »Lenin, der Diktator. Ein intimes Porträt«. Tatsächlich nähert sich Victor Sebestyen Wladimir I. Uljanow und dessen Ehefrau Nadeschda Krupskaja in fast vertraut erscheinender Atmosphäre. Dem deutschen Verlag sei gedankt, auf das Etikett »Diktator« verzichtet zu haben; hierzulande ist dieses Wort durch einen sich vom Gefreiten zum Reichskanzler aufschwingenden Österreicher besetzt. Zu danken ist auch den drei Übersetzern, die in konzentrierter Arbeit und kürzester Frist die kurzweilig geschriebene Biografie ins Deutsche übertrugen.

Victor Sebestyen: Lenin. Ein Leben.
A. d. Engl. v. Norbert Juraschitz, Karin Schuler und Henning Thies.
Rowohlt, 704 S., geb., 29,95 €

Die Eltern des 1956 in Budapest geborenen Sebestyen emi-grierten nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes nach Großbritannien. Der für verschiedene Zeitungen, darunter »Evening Standard«, »The Times«, »Daily Mail« und »New York Times« sowie »Newsweek« tätige Historiker und Publizist hatte als Auslandskorrespondent in der Sowjetunion gearbeitet und bei dieser Gelegenheit etliche Orte, die mit Lenins Lebensweg verbunden waren, aufgesucht. Bei seinen zweijährigen Recherchen machte er die für ihn »durchaus überraschende Erkenntnis, dass fast alle wichtigen Beziehungen in Lenins Leben solche zu Frauen waren. Mein Buch widmet sich also auch einer anderen wenig bekannten Seite Lenins: der Liebe.« Und zu dieser gehörte im Leben des russischen Revolutionärs und Begründers des Sowjetstaates bekanntlich auch die Französin Inessa Armand. Sebestyen bezieht aber auch die Mütter von Lenin und von Nadeschda Krupskaja ein, die das Paar stets unterstützten: Maria Alexandrowna finanziell, Jelisaweta Wassiljewna im Haushalt. Ins Blickfeld geraten ebenso Lenins Beziehungen zu seinen Schwestern Anna und Maria, zu den selbstbewussten Sozialistinnen Alexandra Kollontai und Wera Sassulitsch, zu Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, Angelica Balabanoff und Lidia Dan sowie Fanny Kaplan, um nur einige weitere weibliche Protagonisten in diesem Buch zu nennen.

Einfühlsam beschreibt Sebestyen den Alltag der im Zarenreich verfolgten und in die Emi-gration getriebenen Revolutionäre. Die Entbehrungen in der Verbannung und im Exil und die dramatischen Ereignisse des Jahres 1917 und folgender Jahre gingen an Lenin und Krupskaja nicht spurlos vorüber. Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Nervenleiden waren der Tribut, den sie zahlten. Längere Ruhepausen waren dem Paar selten vergönnt. Nach dem zwar gescheiterten Attentat der Anarchistin und Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan im August 1918 verschlechterte sich Lenins Gesundheitszustand rapide. Für Urlaub war aber auch jetzt, mitten im Bürgerkrieg, keine Zeit. Zur Entspannung mussten Kurzausflüge nach Gorki, ins Landhaus des Paars, genügen.

Sebestyen betont, dass Lenin den Marxismus nicht in Russland eingeführt hat. Tatsächlich kommt dieses Verdienst dem Philosophen und Publizisten Georgi Plechanow zu. Gleichwohl hat auch Lenin europäisches Gedankengut ins Russische übersetzt. »Seine Version des Marxismus, vor allem dessen Intoleranz, Rigidität, Gewalt und Grausamkeit, hatte sich in Lenins eigener revolutionärer Erfahrung als Russe im 19. Jahrhundert herausgebildet«, meint Sebestyen. »Er neigte dazu, eher den Rammbock als das Florett zu benutzen.« Lenins theoretisches Gebäude sei mit der Axt eines Holzfällers, nicht mit der eines Zimmermanns bearbeitet worden, hatte bereits Plechanow kritisiert. Im Buch wird angedeutet, wie Uljanow/Lenin sich über die Jahre hinweg einen eigenen, erfolgreichen Argumentations- und Debattenstil erarbeitete. An Beispielen für Lenins Belesenheit mangelt es nicht.

Den Biografen trieb jedoch vornehmlich die Frage um, warum »die Gewissheiten, die zwei Generationen lang als Grundlagen des Lebens galten, heute deutlich unverbindlicher geworden sind«. Und er fragt sich, ob Lenin heute zu dem Schluss käme, dass die Welt erneut an der Schwelle zu einer revolutionären Erhebung stehe.

Sebestyen betont: »Nicht wegen seiner blutigen und mörderisch fehlgeleiteten Antworten verdient er neue Beachtung, sondern weil er ähnliche Fragen stellte wie wir heute.« Immer wieder verweist der Autor auf vergleichbare Entwicklungen im alten und im neuen Russland. Das letzte Kapitel der chronologisch erzählten Biografie endet mit den Worten: »Die Sowjetbosse, die ihm nachfolgten, glaubten, dass Lenins Leistungen ihre Herrschaft legitimierten. Ein Jahrhundert später wurde Lenin von einer neuen Spezies von Autokraten benutzt, extremen Nationalisten, die zwar ohne seinen Kommunismus auskamen, ihn aber als Herrscher alter russischer Traditionen verehrten.«

Für sein Buch hat Sebestyen die einschlägigen Biografien studiert und Kollegen in Russland, den USA und natürlich Großbritannien konsultiert und um Hilfe bei Archivrecherchen gebeten. Russische Freunde, die seiner Bitte nachkamen, wollten ihren Namen allerdings nicht in einem »westlichen Buch« verewigt wissen. Das ist bezeichnend für die Tragödie Russlands, das heute von einem Präsidenten regiert wird, dessen Großvater Spiridon in Gorki als Koch für das leibliche Wohl von Lenin und die Seinen gesorgt hatte.

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