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Mut oder Müdigkeit?
Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften feiert 325 Jahre der Leibnizschen Societät
Wehmut lag über diesem Leibniztag. Feierlaune schien nicht so recht aufzukommen im großen Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt in Berlin. Dabei galt es ein stolzes Datum zu würdigen: 325 Jahre Wissenschaftsakademie an den Ufern der Spree. Vielleicht war es eine individuelle Fehlwahrnehmung der Beobachterin, Augen- und Ohrenzeugin des Festaktes am vergangenen Samstag? Indes, zu häufig wurden in den Reden »Mut und Zuversicht« beschworen.
Gewiss, die Gegenwart ist unerquicklich. Wir leben in unsicheren Zeiten. Wie unsere Ahnen anno dazumal, 1812, als die Wissenschaftsakademie ihren ersten Leibniztag zu Ehren ihres Gründers, des letzten deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), beging und beschloss, dies fürderhin regelmäßig zu tun zur »Bewahrung ihres historischen Gedächtnisses«, wie Christoph Markschies, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), in seinem Festvortrag anmerkte. Der vormalige Rektor der Humboldt-Universität, nunmehr im fünften Jahr an der Spitze der BBAW, deren Domizil sich gegenüber dem Schinkelschen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt befindet, betonte, man wolle sich an Nietzsches Credo, »wie man nicht feiert«, orientieren: sich ergo nicht mit dankbarem Wiederkäuen von bisher Erreichtem zu begnügen, sondern nach vorn zu schauen.
Nach der schmählichen Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt und Napoleons triumphalem Einzug in Berlin durchs Brandenburger Tor 1806 herrschte Agonie in Preußen. Bis beherzte Männer, namentlich Karl Freiherr vom und zum Stein sowie Karl August von Hardenberg, Reformen einleiteten – eine klassische »Revolution von oben«. Markschies wählte die Metapher, »sich mit dem Schopf aus dem Sumpf zu ziehen«. Im Stakkato ergingen in den folgenden Jahren ministeriale Dekrete, freilich mit königlichem Segen, zur Befreiung der Bauern, Gewerbe-, Städte- und Wahlrechtsreform, Aufhebung der Binnenzölle und schließlich 1812 das Emanzipationsedikt für die jüdischen Staatsbürger. Dringender Reformbedarf bestünde, so Markschies, nach Jahren der »Blockaden« auch derzeit. Die BBAW, die sich als eine »Reformakademie« verstehe, wolle hierfür »Mut und Zuversicht« vermitteln.
Diesem Wortgespann fügte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, in seinem Vortrag noch das Synonym Optimismus hinzu, den er sich von den Akademikern unterstützend zur Bewältigung anstehender Aufgaben erhoffe. »Damals sprach man von Staatsreformen, heute reden wir von Verwaltungsreformen. Und dies schon seit 25 Jahren«, räumte der christdemokratische Politiker ein, der das erlauchte Publikum zugleich wissen ließ: »Ich kann Ihnen versichern, dass wir kurz vor dem Abschluss stehen.« Hm.
Ein größeres Rätsel bescherte Wegners Statement: »Die Wissenschaft ist der Ast, auf dem wir alle sitzen.« Nun ja, wenn dem so ist, sollte man an ihn nicht die Axt anlegen in übereifrigem Reformwahn. Was keine abwegige Befürchtung sein dürfte, denkt man allein an das Ungemach, das Künstler und Kulturschaffende der deutschen Hauptstadt bereits erleiden. Ihren Protest ignorierend, will die unseligen Einsparungen auch die neue, im Mai dem umstrittenen Joe Chialo nachfolgende Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson fortführen, wie sie erst dieser Tage bekräftigte.
»Ohne Wissenschaft wäre Berlin deutlich ärmer«, sagte Wegner. Brave Formulierung. Indes, Erfahrung macht skeptisch. Wer die Axt an Kunst und Kultur legt, schreckt vor der Kettensäge gegen die Wissenschaft nicht zurück. Die Beschwörung von Reformnotwendigkeit ist in unserer Gegenwart negativ behaftet. Zu den bitteren Erkenntnissen des neuen Millenniums gehört, dass sich die Verfechter von »Verschlankung« und »Sparmaßnahmen« als Erstes an öffentlichen Gütern vergreifen und in gesellschaftlich relevanten Bereichen nicht so schnell wieder aufzuforstende Schneisen schlagen. Da beruhigen feierliche Bekundungen wenig. »Wir müssen und wollen mehr in Forschung, Digitalisierung und neue Technologien investieren, um wirtschaftlich zu wachsen und unseren Wohlstand zu sichern«, versprach Wegner. Auch Festredner Cem Özdemir von den Grünen – gelobt am Samstag als ein Mann, der (kurzzeitig) zwei Ministerämter innehatte (Ernährung und Landwirtschaft sowie Bildung und Forschung) und doch nur ein Gehalt bezog – betonte die zentrale Bedeutung der Wissenschaften, gerade auch als grenzüberschreitende Brückenbauer.
Schön und gut. Hellhörig wurde man, als Markschies die in Deutschland bis dato hochgeschätzte, aufwändige Grundlagenforschung verteidigte und eine Abkehr von Wettbewerbsattitüden hervorhob. Was durchaus als ein diskreter Hinweis auf zunehmendes Drängen öffentlicher wie privater Sponsoren auf rasche Amortisierung ihrer finanziellen Zuwendungen und Vermarktung wissenschaftlicher Ergebnisse interpretiert werden kann. Leibniz’ Grundsatz lautete »theoria cum praxi«. Umgekehrt gelte aber auch: keine Praxis ohne Theorie. Über die reine Freude an wissenschaftlichen Erkenntnissen hätten die Gelehrten eine gesellschaftliche Verantwortung, übersetzte Markschies die Idee von Leibniz. Wissenschaftliches Werk müsse sich »auf einen Nutzen richten« – ansonsten drohe zu Recht der Entzug staatlicher Unterstützung. Da schrillte wieder die Alarmglocke.
Was meint Nutzen heutzutage? Nun, Rüstungsforschung könnte, sollte man sich sparen. Das stand indes nicht zur Debatte an diesem Leibniztag (tangiert die BBAW auch eher nicht). Zur Sprache kam als ein Beispiel das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, analog vor über 200 Jahren von den Gebrüdern Grimm begonnen. Ein Ende ist bei diesem Projekt nicht in Sicht, so Markschies. Sprache verändert sich laufend. Die von der internationalen Scientific Community geschätzte Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), von der BBAW aus DDR-Erbmasse übernommen, fand keine Erwähnung, ebenso wie andere Großprojekte der BBAW. Anhand der Auszeichnungen und Bekanntgabe der neu gewählten Akademiemitglieder lässt sich aber schließen, dass als Nutzen zum Gemeinwohl insbesondere medizinische und Klimaforschung erachtet werden.
Sympathisch übrigens, dass die BBAW fortan auf dem Leibniztag einen Preis an »besonders engagierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen« vergibt, der nach der langjährigen, vor fünf Jahren verstorbenen Pressereferentin Gisela Lech benannt ist. Die studierte Germanistin, Politologin und Philosophin war unter anderem Ideengeberin des stets im Januar stattfindenden und von den Hauptstädtern stark frequentierten »Salon Sophie Charlotte«, der gemäß dem enormen Facettenreichtum des Leibnizschen Werkes in die Geheimnisse der diversen Wissenschaftsdisziplinen einführt, über aktuelle Dispute und Erkenntnisse berichtet.
Der gebürtige Leipziger Leibniz war übrigens quasi ein Pionier der Computertechnologie, hat auf der Basis des von ihm entwickelten binären Zahlensystems eine Rechenmaschine konstruiert und meinte ganz modern: »Es ist unwürdig, die Zeit von hervorragenden Leuten mit knechtischen Rechenarbeiten zu verschwenden, weil bei Einsatz einer Maschine auch der Einfältigste die Ergebnisse sicher hinschreiben kann.« Der Tüftler entwarf sogar schon Pläne für ein U-Boot. Und mit seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen griff er dem Freudschen »Unbewussten« vor. Leibniz war Aufklärer und Reformer zugleich, offerierte beispielsweise Vorschläge zur Verbesserung des Geld-, Handels- und Manufakturwesens sowie der Jurisprudenz. Insofern wandelt die BBAW mit ihren Ambitionen wissenschaftlicher Politikberatung durchaus auf dessen Spuren.
»Kulturwandel in der Wissenschaft ist notwendig«, erklärte Markschies. Dazu gehören stärkere internationale Vernetzung und Kooperation. »Ausländische Debatten und ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben immer wieder neues Leben und neue Ideen in das deutsche Wissenschaftssystem gebracht. Das sieht man am französischen Jahrhundert der Akademie.« Als jenes gilt das 18. Jahrhundert, da man an der Berliner Akademie nicht nur Französisch sprach, sondern dieser auch ein Franzose vorstand, der Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Friedrich II., der sogenannte Große, gab der Leibnizschen Societät den französischen Namen »Académie des Sciences et Belles-Lettres«. Fast die Hälfte der ordentlichen Mitglieder waren damals Franzosen. Zu den Ehrenmitgliedern zählten die großen Aufklärer Voltaire, Montesquieu und Diderot. Und bekannt sein dürften die Tafelrunden Friedrich II., allein durch das berühmte Gemälde von Adolf Menzel, das Voltaire im Gespräch mit dem Preußenkönig zeigt. Die Freundschaft zwischen dem Philosophen und dem Monarchen endete jedoch im Eklat, zerbrach in heftigem Streit.
Das »französische Jahrhundert« der Leibnizschen Akademie, eine Periode preußischer Geschichte, die von Toleranz und Offenheit für Neues geprägt war, stand im Fokus des diesjährigen Leibniztages. Weshalb denn auch der französische Botschafter in Berlin und sein deutscher Kollege in Paris Grußworte beisteuerten. Die Diplomaten verwiesen insbesondere auf das (durch Donald Trump erzwungen) neu aufgeschlagene Kapitel europäischer Geschichte, in dem besondere Verantwortung Frankreich und Deutschland zukämen. Leibniz dero selbst blickte über nationalen und kontinentalen Tellerrand hinaus, war einer der ersten, die von einer damals herrschenden »Gewissheit« abrückten, Europa sei einziger Hort der Hochkultur. Im Vorwort seiner »Novissima Sinica« (Neuestes aus China) schrieb er: »Wer hätte einst geglaubt, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln des kultivierten Lebens übertrifft?«
Obwohl Gründungsvater Leibniz nach wie vor nah, dürften Akademiker derzeit wohl nicht mehr wie er dereinst in seiner »Theodizee« behaupten, in der »besten aller möglichen Welten« zu leben – ein (gottvertrauender) Optimismus, den Voltaire in seiner Novelle »Candide« mit reichlich Spott überschüttete. »Neuer Schwung und neue Ideen werden wieder gebraucht, um ein vielfach durch zu starke Hierarchisierung, Überbürokratisierung und Angst vor Veränderung gefesseltes System zukunftsfähiger zu machen«, erklärte Markschies. Man wolle deshalb auch akademische Debatten vermehrt in die Öffentlichkeit tragen.
Angesichts des nur zur Hälfte gefüllten Festsaals und des raschen Auseinanderstiebens der Gäste nach der Festivität kam neben Wehmut auch Mitleid auf. Doch nicht nur, dass man beschwingtere Leibniztage erlebt hat, es ist zu viel Einvernehmen von Wissenschaft und Politik beschworen worden. Zwischen Geist und Macht? Das kann nicht sein. Vor allem aber vermisste man klare Worte der deutschen akademischen Zunft zu kriegerischem Irrsinn und politischer Unvernunft dieser Tage weltweit. Zeichen resignativer Ermattung in verrückten Zeiten? Müdigkeit statt Mut.
Bleibt zu wünschen, dass die (eintrittsfreien) Veranstaltungen der BBAW in den Jubiläumsfestwochen von den Berlinern und Berlinerinnen, Brandenburgern und Brandenburgerinnen gut besucht werden. Die thematischen Titel – von »Laufend entdecken« über »Schöner streiten« bis »Länger wachbleiben« – machen zumindest neugierig. Die Festwochen enden am 28. Juni mit der »Langen Nacht der Wissenschaften«.
Apropos: Die Gründungsurkunde der Leibnizschen Sozietät der Wissenschaften trägt das Datum vom 11. Juli anno domini 1700. Ohne weiblichen Beistand, ohne die Überzeugungs- und Überredungskünste einer klugen, beherzten Frau, der Gattin des damaligen brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., im Jahr darauf zum ersten preußischen König gekrönt, wäre diese »Generalinstruktion« wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Ihr Name: Sophie Charlotte.
Programm der Festwochen unter www.bbaw.de/325
Obwohl dem Gründungsvater Leibniz nach wie vor nahe, dürften Akademiker heute wohl nicht mehr wie er dereinst behaupten, in der »besten aller möglichen Welten« zu leben.
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